Gesundheitskosten – kein Grund zur Panik

Zwischen 2010 und 2020 sind die Kosten der mit den Grundversicherungsprämien versicherten medizinischen Leistungen jährlich um 2,5 Prozent pro Kopf gestiegen. Das Parlament sollte Bundesrat Bersets Reformhysterie stoppen und zuerst die Wirkung der beschlossenen KVG-Reformen evaluieren lassen.

, 8. Februar 2022 um 13:31
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Damit aussergewöhnliche Kostensteigerungen wie die von santésuisse kommunizierten fünf Prozent im vergangenen Jahr und möglicherweise auch diejenige in diesem Jahr nicht zu grossen Prämienschwankungen führen, haben die Krankenkassen Reserven.

santésuisse schiesst sich mit Kostenpanik ins eigene Knie

santésuisse schätzt die Corona-Kosten, die wir seit Pandemiebeginn via Krankenkassenprämien bezahlt haben, auf gut eine Milliarde Franken. Das jährliche Volumen der Grundversicherungsprämien beträgt rund 34 und die Reserven rund 11 Milliarden Franken. Ich schätze, dass die pandemiebedingten Mehrkosten der medizinischen Leistungen, die Bund und Kantone bisher übernommen haben, wesentlich höher sind als diejenigen der Kassen.
Der Konsumentenpreisindex – die Grundversicherungsprämien sind in diesem Index nicht enthalten - sank zwischen 2010 und 2020 um 0,1 Prozent pro Jahr. Der Anteil der Gesundheitsausgaben der Privathaushalte steigt wie die Ausgaben für das Wohnen, andere Ausgaben wie etwa diejenigen für Nahrungsmittel schrumpfen. Und für Haushalte, die zu stark unter der Krankenkassenprämienlast leiden, gibt es Prämienverbilligungen. Die SP-Volksinitiative, welche die Prämienlast schweizweit auf exakt 10% pro Haushalt beschränken will, ist ebenso der falsche Weg wie die Mitte-Initiative, welche die Kosten an die Löhne koppeln will. Die Kostenstruktur der Unterschichtshaushalte in den einzelnen Kantonen ist unterschiedlich. Die Kantone brauchen deshalb für die Prämienverbilligungen etwas Spielraum und vor allem keine starren Schwellenwerte. Und wer wie der Kanton Luzern den Spielraum strapaziert und Prämienverbilligungen sogar rückwirkend kürzt und zurückfordert, wird vom Bundesgericht zurückgepfiffen.
Anstatt in der Pandemie auf den Sinn der Reserven hinzuweisen, macht der Krankenkassenverband santésuisse auf Kostenpanik, wie es er und seine Vorgängerorganisationen es schon seit über 100 Jahren tun. Wer aber über 100 Jahre lang behauptet, das System kollabiere, wenn es mit den Kosten- und Prämiensteigerungen so weitergehe, ohne dass der Kollaps je eingetreten ist, wirkt nicht mehr glaubwürdig. Panikmache ist ebenso schlecht wie nichts tun. Die Reformvorschläge von santésuisse sind besser als diejenigen des Bundesrats.

Gute und weniger gute Reformvorschläge

Kostenziele sind nur in bestimmten Verträgen sinnvoll: santésuisse verlangt, dass die Tarifpartner gemeinsam kostendämpfende Massnahmen in ihren Tarifverträgen festlegen müssen. Ja, das sollten Tarifpartner konsequenter tun, aber nicht so, wie es santésuisse mit dem Art. 47c KVG immer noch will, obwohl dieser im Ständerat eben gescheitert ist. Nehmen wir an, die Ärzt:innen eines Kantons vereinbaren für ihre Leistungen mit den Krankenkassen ein Wachstum von 2 Prozent im kommenden Jahr plus eine Tarifkürzung im Jahr danach, wenn das Wachstum insgesamt überschritten wird. Falls das Kostenwachstum höher als 2 Prozent ist, werden alle Ärzt:innen mit derselben Tarifkürzung bestraft, unabhängig davon, ob sie die Wachstumsgrenze überschritten haben oder nicht. Kostendämpfende Massnahmen dürfen nur Tarifpartner vereinbaren, die auch die Kontrolle haben, am besten in alternativen Versicherungsmodellen mit Fullcapitation und Qualitätssicherung. Ein solcher Vertrag setzt für das Ärztenetz Anreize, die Patienten gut zu versorgen, unnötige Medizin zu vermeiden, ohne die Qualität zu vernachlässigen. Wird das vom Ärztenetz und der Kasse gemeinsam ausgehandelte Jahresbudget für alle kassenpflichtigen Leistungen (Fullcapitation) unterschritten, bekommt das Ärztenetzwerk eine Belohnung, die Versicherten in Form eines Prämienrabatts ebenfalls. Mit der einheitlichen Finanzierung der ambulanten und stationären medizinischen Leistungen (EFAS), wären Capitationmodelle interessanter, weil nicht nur die Kantone von den durch bessere ambulante Versorgung gesparten Spitalkosten profitieren würden.
Qualität als zwingendes Kriterium für die Vergütung: Um die Qualitätsentwicklung gezielter zu fördern, will santésuisse die Qualität der versicherten medizinischen Leistungen als ein zwingendes Kriterium in die Vergütung medizinischer Leistungen miteinbeziehen. Hier ist das Problem das gleiche wie bei den Kostenzielen. Der Anreiz Qualität bei der Vergütung wirkt nur, wenn der Leistungserbringer die unternehmerische Verantwortung für die Qualität hat. Sind die Tarifpartner auf beiden Seiten unternehmerisch unabhängige Einheiten – mehrere Kassen und viele Ärzt:innen oder Spitäler – funktioniert es nicht, weil auch der Qualitätswettbewerb nicht funktioniert, wenn alle kollektiv bestraft oder belohnt werden.
Health Technology Assessment (HTA): Bei der Überprüfung der neuen und der etablierten versicherten medizinischen Leistungen muss das BAG tatsächlich systematischer, transparenter und schneller vorgehen, wie das santésuisse verlangt, damit die versicherten medizinischen Leistungen tatsächlich dem KVG-Grundsatz der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW) entsprechen.
Preise der Medikamente, Mittel- und Gegenstände sowie Laborleistungen: Die Forderung von santésuisse, dass das BAG diese Preise regelmässig mit den Preisen anderer Länder vergleicht und anpasst, ist berechtigt. Man könnte das BAG auch entlasten, indem die Krankenversicherer mindestens dort mit den Anbietern die Preise verhandeln, wo es Konkurrenzangebote gibt.
Ausserparlamentarische Kommission Kostenentwicklung: Was sich santésuisse von einer weiteren ausserparlamentarischen Kommission verspricht, die periodisch die Kostenentwicklung in ausgewählten Bereichen überprüft und Empfehlungen abgibt, ist mir schleierhaft. Ich befürchte wie bei der Qualitätskommission bloss noch mehr Bürokratie, welche die medizinischen Fachleute von der Arbeit mit den Patient:innen abhält. Eine Stärkung des im KVG verankerten Wettbewerbs mit Anreizen für erreichte Behandlungsziele anstatt für Behandlungsmengen, wäre sinnvoller.
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