Warum hat sich die Politik am Tarmed festgebissen?

Die neuesten politischen Vorstösse zu den Gesundheitskosten gehen an entscheidenden Fragen vorbei. Dabei gäbe es Wege, wie sich das Prämienwachstum bremsen liesse – ohne Einbussen in der medizinischen Versorgung. Eine Stellungnahme von FMH-Präsident Jürg Schlup.

, 2. März 2017 um 09:00
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Der Anteil der Gesundheitskosten am BIP beträgt in der Schweiz 11,1 Prozent und ist damit gleich hoch wie in den Niederlanden (11,1 Prozent), Deutschland (11,0 Prozent), Schweden (11,0 Prozent) und Frankreich (10,9 Prozent). Gleichzeitig gehört unsere Patientenversorgung im europäischen Vergleich zu denen mit der besten Zugänglichkeit und den besten Outcomes. Zudem haben die Schweizer, neben Luxemburgern und Norwegern, die mit Abstand höchsten verfügbaren Einkommen.
Zwar hat sich unsere monatliche Durchschnittsprämie zwischen 2006 und 2014 um 100 Franken gesteigert – der monatliche Durchschnittskonsum (+325 Franken), die Steuerbelastung (+370 Franken) und sogar die monatlichen Ersparnisse (+715 Franken) steigerten sich jedoch weit mehr.

«Sachliche Analyse geboten»

Warum merke ich das an? Weil mir sachliche Analyse geboten scheint – nach den Rationierungsforderungen samt prognostiziertem Versorgungskollaps der letzten Wochen (etwa hierhier und hier).
Selbstverständlich gilt es ständig zu prüfen, wo es ungenutzte Effizienz-, Verbesserungs- und Sparpotentiale gibt. Leider gehen aber die neuesten politischen Vorstösse an solch entscheidenden Fragen vorbei.
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    Jürg Schlup

    Jürg Schlup ist seit 2012 Präsident der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH). Zuvor war er mehr als 20 Jahre als Hausarzt in einer Doppelpraxis tätig. — Schlup leitete von 1983 bis 1987 die Sektion Bern des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO), von 2001 bis 2010 präsidierte er die Ärztegesellschaft des Kantons Bern. — Er studierte in Bern Medizin und erwarb 1996 einen Executive MBA an der Hochschule St. Gallen.


  • So fordert die Motion 16.3987, «dass zwingende Kostenbegrenzungsmassnahmen in Kraft treten» sollen, sobald der OKP-Kostenzuwachs (also die ­Prämienentwicklung) die Nominallohnentwicklung um das 1,1-fache übersteigt. Welche Leistungen bei welchen Patienten mit diesem reduzierten Budget nicht mehr bezahlt würden, lässt der Vorstoss offen.
  • Die parl. Initiative 17.402 verlangt, dass Leistungs­erbringer und Versicherer fortan «in den Tarifverträgen Massnahmen zur Steuerung der Kosten und Leistungen» vorsehen, über die der Bundesrat zudem «Grundsätze» aufstellen kann – eine elegante Verklausulierung für die Einführung eines Globalbudgets. Der Vorstoss lässt die Inspirationsquellen des EDI erkennen – die Niederlande und Deutschland. Welche Kostenvorteile diese Länder der Schweiz gegenüber aufweisen, sehen Sie oben: keine.
  • Ausserdem soll der Bundesrat gemäss der parl. Ini­tiative 17.401 zukünftig eine Tarifpflege-Organisation konzipieren und sie auch selber einsetzen können. Dennoch scheint man von dieser Organisation nicht allzu viel zu erwarten. Denn trotzdem soll der Bundesrat zukünftig die Tarife und Preise selber festsetzen können, die dafür nötigen Daten sollen ihm die Leistungserbringer und Versicherer zur Verfügung stellen müssen.

 

Eine Kostenverwaltungsabteilung im BAG?

Gemeinsam ist diesen Vorstössen nicht nur die Forderung weitreichender Staatskompetenzen im Gesundheitswesen bei völliger Unklarheit der Auswirkungen auf die Patientenversorgung. Wenig rational erscheint auch, wie sich die Politik am ambulanten Arzt- und Spital­tarif Tarmed geradezu festgebissen hat: Über den Tarmed werden rund 11 von 71 Milliarden Franken – also ein gutes Siebtel unserer Gesundheitskosten – abgerechnet.
Eine staatliche Steuerung und Deckelung ­dieses kostengünstigen Siebtels kann kein Kosten­problem lösen – eher würden neue geschaffen, beispielsweise wenn Patienten (und Ärzte) von der ambulanten in die teurere stationäre Versorgung ausweichen.
Ist es Aufgabe des Bundes, den ambulanten Arzt- und Spitaltarif zu entwickeln? Ist es zielführend, im BAG eine neue Kostenverwaltungs- oder gar Rationierungsabteilung zu schaffen? Ich denke nicht.
Wenn für viele Haushalte die Prämien heute ein Pro­blem sind, obwohl die Gesamtkosten volkswirtschaftlich tragbar sind, muss der Bund die Prämienzahler entlasten, indem er die Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen vereinheitlicht. Damit könnte er ohne Einbussen in der medizinischen Versorgung die Prämienentwicklung bremsen, weil durch kon­sequenteres «ambulant vor stationär» die Patienten­behandlung günstiger würde.
Hingegen die medizi­nische Versorgung einzuschränken, weil die Verteilung der Kostenlast nicht mehr zeitgemäss ist, wäre die falsche Lösung für ein ernstzunehmendes Problem.
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