Aktuell wird im Parlament einerseits die Kostenbremse-Initiative mit indirektem Gegenvorschlag des Bundesrates beraten, andererseits das Kostendämpfungspaket 1b mit dem «reanimierten» Art. 47c KVG, den das Parlament eigentlich bereits abgelehnt hatte.
Andreas Faller
Rechtsanwalt und Berater im GesundheitswesenAndreas Faller (1966) ist Rechtsanwalt, Berater im Gesundheitswesen und Geschäftsführer von drei nationalen Verbänden im Gesundheitswesen. Er ist ferner in mehreren Verwaltungsräten von Unternehmen im Gesundheitswesen. Andreas Faller arbeitete unter anderem beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) als Vizedirektor und Leiter des Direktionsbereiches Kranken- und Unfallversicherung sowie beim Gesundheitsdepartement Basel-Stadt als Generalsekretär und als Leiter Gesundheitsdienste.
Das Reformchaos zu den Kostenzielen führt definitiv nicht zu sinnvollen Lösungen
Seit einiger Zeit kämpft sich das Bundesparlament durch ein Chaos, bestehend einerseits aus dem Kostendämpfungspaket 1b mit Art. 47c KVG und andererseits aus der Kostenbremse-Initiative mit indirektem Gegenvorschlag des Bundesrates und der SGK-N. Der indirekte Gegenvorschlag des Bundesrates (Art. 54 KVG) enthält staatlich angeordnete Kostenziele, Art. 47c KVG die inhaltlich sehr ähnliche, leicht abgemilderte, aber ebenfalls untaugliche Variante von Kostenzielen. Der bereits von beiden Kammern des Parlaments abgelehnte Art. 47c KVG wurde durch einen fragwürdigen «Kunstgriff» im Nationalrat wieder zum Leben erweckt.
Gegen beide Regelungen sprechen eindeutige Argumente:
- Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass solche Instrumente völlig falsche Anreize setzen, indem kostenbewusst arbeitende Leistungserbringer in eine Art «Sippenhaft» genommen und für das Fehlverhalten anderer zur Rechenschaft gezogen werden.
- Sofern die Tarife nicht angetastet werden, führen solche Instrumente zu Rationierungen, was gegen Art. 43 Abs. 6 KVG verstossen würde (Gebot der qualitativ hochstehenden und zweckmässigen gesundheitlichen Versorgung).
- Volumenbegrenzungen würden zu massiven Blockaden bei Tarifverhandlungen führen.
- Art. 47c und der indirekte Gegenvorschlag zur Kostenbremse-Initiative KVG können auf sekundäre Leistungserbringer wie beispielsweise Apothekerinnen / Apotheker und Physiotherapeutinnen / Physiotherapeuten gar nicht angewendet werden, da sie auf ärztliche Verschreibung hin tätig werden und die Menge der erbrachten Leistungen kaum bis gar nicht beeinflussen können.
Dieses Reformchaos wird kaum zu sinnvollen Lösungen führen.
Das Chaos mit den 38 Massnahmen
Mit vielversprechender kommunikativer Umrahmung verabschiedete der Bundesrat am 28. März 2018 ein auf einem internationalen Expertenbericht basierendes Kostendämpfungsprogramm mit 38 Reformvorschlägen.
Inhaltlich stellen die 38 Massnahmen einen heterogenen Strauss von Ideen von unterschiedlicher Qualität, Flughöhe und Granularität dar. Ein systemischer Zusammenhang oder ein «Reformplan» sind nicht zu erkennen. Verschlimmert wurde dieses Reformchaos dann dadurch, dass von Anfang an unklar war, nach welchen Kriterien Pakete aus den 38 Massnahmen geschnürt wurden und weshalb wichtige Themen aus dem Expertenbericht nie aufgenommen wurden, zum Beispiel die Mehrfachrollen der Kantone.
Seit rund drei Jahren kämpfen sich die Pakete 1a und 1b nun durch das Bundesparlament, binden extrem viel Ressourcen und blockieren den Weg für sinnvolle, mehrheitsfähige Reformen. Mit anderen Worten verstopfen sie den Reformkanal. Fest steht bereits jetzt, dass von diesem Massnahmenpaket nur sehr wenig übrig bleiben wird, ein nachhaltiger Effekt auf das Gesundheitswesen ist höchst unwahrscheinlich.
Von Gesundheit 2020 zu Gesundheit 2030
Diesen Aktivitäten vorangegangen war das Paket «Gesundheit 2020» (mittlerweile ersetzt durch Gesundheit 2030), das bis heute ebenfalls keinen reformatorischen Fussabdruck hinterlassen hat.
Unliebsames bleibt liegen
Andererseits werden unliebsame Reformen nur sehr zögerlich bearbeitet, so zum Beispiel das Postulat Cassis 15.3464 «Krankenversicherungsgesetz. Roadmap zur Entflechtung der Mehrfachrolle der Kantone» vom 6. Mai 2015. Es wurde vom Nationalrat am 2. Mai 2017 angenommen. Der Bericht des Bundesrates ist somit bereits seit mehr als drei Jahren überfällig.
Dasselbe gilt für die Motion 17.3969 der SGK-S «Tarifpartner sollen Tarife von Laboranalysen aushandeln». Diese wurde vom Zweitrat am 19. September 2018 angenommen. Auch hier ist der Bericht des Bundesrates seit bald zwei Jahren überfällig.
Die Liste liesse sich ohne weiteres um zahlreiche Beispiele verlängern.
Dabei ist Art. 122 Abs. 1 des Parlamentsgesetzes (ParlG) wörtlich zu entnehmen, dass eine von den Räten angenommene Motion nach zwei Jahren umgesetzt sein muss, ansonsten berichtet der Bundesrat der Bundesversammlung jährlich, was er zur Erfüllung des Auftrages unternommen hat und was er dafür noch zu tun gedenkt. Dieselben Fristen gelten gemäss Art. 124 Abs. 4 ParlG für Postulate.
Dieser Umgang mit dem Parlament und seinen demokratischen Prozessen ist nicht nur inakzeptabel, sondern schlichtweg gesetzeswidrig. Und er erweckt den Eindruck, man wolle für Bundesrat und Verwaltung unangenehme Vorstösse aussitzen.
Versuch einer Diagnose
Reformprojekte von Regierung und Verwaltung werden häufig in Amtsstuben ohne vertieften Beizug der Akteure erarbeitet. Und sie lassen kein nachvollziehbares Reformkonzept, keine «Idee de Manoeuvre» erkennen.
Dementsprechend tief ist die Akzeptanz für Reformentwürfe aus Bundesrat und Verwaltung.
Solche Reformen haben nur dann eine Chance auf Mehrheitsfähigkeit, wenn sie unter Beizug von Akteuren und Politik erarbeitet werden. So wird dies in zahlreichen Kantonen gemacht und so habe ich das in 10jähriger Tätigkeit in einer kantonalen Verwaltung erlebt. Und genau deshalb haben wir auf kantonaler Ebene zahlreiche Reformen und Revisionen erfolgreich ins Ziel gebracht.
Hinzu kommt, dass Reformen des Bundesrates im Gesundheitswesen in aller Regel seit vielen Jahren eine eindeutig etatistische «Schlagseite» haben und auch inhaltlich kaum mehrheitsfähig sind.
Aus diesen Voraussetzungen resultieren beinahe immer Vorlagen, denen schon von Beginn weg massive Mängel anhaften.
Und dann ist das Parlament gefordert. Dort sitzen Milizpolitiker und Milizpolitikerinnen, deren Aufgabe es nicht ist und nicht sein kann, Reformen selber zu erarbeiten und zu formulieren. Dafür fehlt ihnen schlichtweg die Zeit und das detaillierte Fachwissen. Das ist auch nicht ihre Rolle.
Ein weiterer Aspekt: Es wird äusserst zögerlich reformiert, «unliebsame» Themen werden auf die lange Bank geschoben. So beispielsweise die Reformen zur Tarif- und Preisbildung bei Medikamenten, Laboranalysen sowie Mittel und Gegenständen.
Es ist erstaunlich, wie geduldig das Parlament mit diesen Missständen umgeht.
Es gibt Lösungsvorschläge, nur hört niemand zu
Nun kann man sagen: Grossartig, wieder einer, der einfach nur kritisiert.
Stimmt nicht, hier ein konstruktives Beispiel statt vieler:
Der Subkommission der SGK-N, die sich mit der Kostenbremse-Initiative des Bundesrates und dem indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates befasst hat, wurde ein vollständig ausformuliertes Reformpaket vorgelegt, welches Prof. Bernhard Rütsche, Ordinarius für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Luzern in Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten des schweizerischen Gesundheitswesens erarbeitet hat. Das Paket enthält komplett ausformulierte und kommentierte Gesetzestexte.
Die darin unterbreiteten Vorschläge greifen relevante Schwachstellen des KVG auf, bilden ein in sich stimmiges Konzept zur Systemverbesserung, dessen Umsetzung neben Qualitäts- sowie Effizienzsteigerung eine massive Reduktion unnötiger Bürokratie und erhebliche Einsparungen ermöglicht, ohne die medizinische Versorgung zu beeinträchtigen.
Die erwähnten Vorschläge würden auch dem Kernanliegen der Kostenbremse-Initiative Rechnung tragen, nämlich das Kostenwachstum im schweizerischen Gesundheitswesen ohne Kollateralschäden zu bremsen.
Leider hat dieses Reformpaket in der SGK-N keine Beachtung gefunden.
Wege aus dem Chaos
Es gäbe Wege aus dem Chaos und aus der Reformblockade:
Reformvorschläge müssen bereits vor Überweisung an das Parlament eine gewisse Akzeptanz haben und sie müssen einer Reformidee folgen, die vermittelbar und kommunizierbar ist.
Und hierfür muss man den offenen Dialog mit Akteuren und Politik führen, bevor man eine Vorlage in die Vernehmlassung schickt respektive an das Parlament überweist.
Weshalb tun das Bundesrat und Bundesverwaltung nicht?
Ich habe nicht die geringste Ahnung.
Aber ich weiss, dass man in Zusammenarbeit mit den Akteuren und Systemkennerinnen/Systemkennern deutlich grössere Chancen auf tragfähige Lösungen hat.
Das Angebot zum Dialog steht, da spreche ich für viele Insider und Kenner unseres Gesundheitswesens – man muss das Angebot einfach annehmen, Mut zu Veränderung und Innovation zeigen, statt irgendeinen kleinen Vorteil des Status quo zu suchen und sich daran festzuhalten oder unangenehmen Themen einfach auszuweichen.
Wie sagte schon Niccoló Machiavelli: «Wer erneuern will, hat all jene zum Feind, denen es unter den alten Verhältnissen gut gegangen ist.»
Und es findet sich immer irgendjemand, dem der Status quo besser passt. Das darf aber kein Grund sein, wichtige und dringende Reformen nicht anzugehen.