Machen Sie Ihre Hausaufgaben, Frau Nold!

Ergebnisse einer Umfrage bei Krankenversicherern legen nahe, dass die Vertrauensärzte, die über Kostengutsprachen in der Rehabilitation entscheiden, oft nicht über ausreichende Qualifikationen oder Erfahrungen in diesem Bereich verfügen.

, 21. Juni 2023 um 06:00
image
Die Rehabilitation bezweckt den koordinierten Einsatz medizinischer, sozialer, beruflicher, technischer und pädagogischer Massnahmen, die den Betroffenen bei Krankheit oder Unfall helfen, funktionelle Einschränkungen und damit eine Beeinträchtigung der Lebensqualität zu überwinden. Die Krankenkassen müssen beim Eintritt in die Rehabilitation – anders als in den übrigen medizinischen Behandlungen – eine Kostengutsprache erteilen. Dieser Prozess ist für die Patientinnen und Patienten entscheidend. Entsprechend sind an diese Kostengutspracheprozesse höchste Anforderungen zu stellen. Swiss Reha wollte wissen, wie es bei den Krankenversicherern aussieht. Das Ergebnis ist ernüchternd.
Im Gegensatz zur somatischen oder psychiatrischen Medizin verlangt der Gesetzgeber für stationäre Behandlungen in der Rehabilitation höhere Anforderungen. Gestützt auf Art. 33 KVG sind die Voraussetzungen der Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für Massnahmen der Rehabilitation in Ziffer 11 von Anhang 1 zur KLV näher geregelt. Es wird generell eine vorgängige Kostengutsprache des Versicherers verlangt, welche sich auf eine ausdrückliche Bewilligung des Vertrauensarztes stützen muss. Der Vertrauensarzt muss also immer prüfen, ob die Voraussetzungen der Spitalbedürftigkeit im konkreten Fall erfüllt sind.
Um Rehabilitationsbedürftigkeit, Rehabilitationsfähigkeit und Rehabilitationspotential beurteilen zu können, sind besondere Kenntnisse erforderlich. Andernfalls steigt das Risiko unqualifizierter Entscheidungen, welche für Patientinnen und Patienten schwerwiegende Folgen bzgl. ihrer beruflichen und sozialen Wiedereingliederung und für die Gesellschaft höhere Folgekosten beispielsweise durch vermeidbare Pflegeheimeintritte verursachen können. Vertrauensärzte übernehmen damit eine äusserst wichtige Aufgabe. Werden sie dieser in der Praxis auch tatsächlich gerecht? Santésuisse-Direktorin Verena Nold - sie war selber einmal Direktorin einer Rehabilitationsklinik - äusserte anlässlich der Europäischen Unfallrehabilitations-Tagung vom April 2023 in Bellikon die Auffassung, die Vertrauensärzte seien sehr gut qualifiziert für die Beurteilung der Kostengutsprache-Gesuche (Aussage in Gegenwart des Autors, der die Veranstaltung moderierte). Trifft dies zu?
Swiss Reha, der Verband der führenden Rehabilitationskliniken in der Schweiz, hat unter Berufung auf das Öffentlichkeitsgesetz von den zehn grössten Krankenversicherern der Schweiz folgende Informationen verlangt:
  • Liste der Vertrauensärztinnen und -ärzte, die zwischen 1.1.2022 und 31.12.2022 Kostengutsprachen für die stationäre Rehabilitation gemäss KVG für Ihre Krankenkasse beurteilten
  • Liste der fachlichen Qualifikationen (Abschlüsse/Staatsexamen im In- und Ausland, Facharzttitel, berufliche Stationen, Anzahl Jahre Erfahrung als Arzt/Ärztin in welcher Rehabilitationsklinik) der Vertrauensärztinnen und -ärzte auf der Liste gemäss oben angeforderter Liste
  • Liste der Zuordnung der Vertrauensärztinnen und -ärzte auf Anstellungsverhältnisse (samt Pensumsangabe bei Teilzeitverhältnissen) bei Ihrer Krankenkasse sowie auf Auftragsverhältnisse sowie zeitliche Pensen für die Beurteilung von Kostengutsprachen der stationären Rehabilitation zwischen 1.1.2022 und 31.12.2022
  • Tabelle der Bearbeitungszeiten für die zwischen 1.1.2022 und 31.12.2022 bearbeiteten Kostengutsprachen der stationären Rehabilitation (vom Eintreffen des Gesuchs bis zur definitiven Antwort an die Gesuchsstellerin)
Vier Krankenversicherer gehören dem Verband Curafutura an, sechs jenem von Santésuisse.
Gesamthaft lassen sich die Rückmeldungen wie folgt in Kurzform zusammenfassen:
  • Sämtliche Curafutura-Mitglieder antworteten inhaltlich, fünf von sechs Santésuisse- Mitglieder ebenfalls. Die SWICA antwortete, keine Dokumente vorliegen zu haben, die in diesem Zusammenhang vom Öffentlichkeitsgesetz erfasst werden.
  • Die meisten Krankenversicherer nennen die einzelnen Vertrauensärzte und verweisen bzgl. der Erfahrungen auf das Medizinalberuferegister (MedReg).
  • Eine Analyse der dortigen Daten zeigt, dass - mit Ausnahme der beiden grossen Krankenversicherer beim Verband Curafutura - die Vertrauensärzte kaum oder gar keine praktischen Erfahrungen durch die Tätigkeit in einer stationären Rehabilitationsklinik ausweisen.
  • Teilweise stammen die Vertrauensärzte aus dem Ausland, wo sich mindestens teilweise der Rehabilitations-Begriff erheblich vom schweizerischen unterscheidet, weil Rehabilitationskliniken über keinen Spital-Status wie in der Schweiz verfügen.
  • Viele Krankenversicherer antworten, dass sie entweder keine Angaben zu Anstellungs- bzw. Auftragsverhältnissen der die Kostengutsprache-Gesuche beurteilenden Vertrauensärzte machen wollen bzw. über keine solchen verfügen.
  • Fast alle Krankenversicherer verfügen nach ihren Angaben über keine Statistiken über die Bearbeitungszeiten von Kostengutsprache-Gesuchen für stationäre Leistungen.
Aus dieser statistisch als repräsentativ zu betrachtenden Umfrage lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:
  • Die Voraussetzungen zur Tätigkeit als Vertrauensarzt für die Kostengutsprache in der Rehabilitation sind identisch mit jenen für alle übrigen KVG-Vorgänge, in welchen Vertrauensärzte eine Aufgabe erfüllen. Die Einschätzung der spezifischen Qualifikation durch die Santésuisse-Direktorin entbehrt also mindestens der praktischen Grundlage, welche die Krankenversicherer liefern.
  • Die gewährte Qualitätstransparenz der Versicherer ist äusserst bescheiden, obwohl sie im Rahmen ihrer Tätigkeit zu Lasten der sozialen Krankenversicherung dem Öffentlichkeitsgesetz unterstellt sind.
  • Davon betroffen sind Angaben zu allen Qualitäts-Dimensionen. Sie wissen nicht einmal (oder wollen es nicht sagen), in welchem Umfang die Vertrauensärzte für die Rehabilitations-Kostengutsprachen tätig sind (Strukturqualität), bzw. wie lange die Kostengutspracheverfahren dauern (Prozessqualität). Sie verfügen über Vertrauensärzte, die wenig bis keine praktischen Erfahrungen in stationären Rehabilitationskliniken aufweisen (gefährdete Indikations- und Ergebnisqualität).
Um es klar und deutlich zu sagen: Dies ist nicht den Vertrauensärzten anzulasten, diese versuchen ihren Job zu machen. Verantwortlich für die Kostengutspracheprozesse und deren Qualität sind die Krankenversicherer. Von den Krankenversicherern muss verlangt werden, dass sie Vertrauensärzte zur Beurteilung von Kostengutsprachen einsetzen, die über spezifisches Rehabilitationswissen in Schweizer Kliniken verfügen. Nur so werden die Versicherer ihrer Verantwortung gegenüber ihren Kunden, jeder Einwohnerin und jedem Einwohner, gerecht. Bis dahin sollte Santésuisse-Direktorin Verena Nold wohl besser auf Behauptungen zum Kostengutspracheprozess verzichten.

Willy Oggier ist Gesundheitsökonom Dr. oec. HSG und Präsident Swiss Reha.

  • reha
  • willy oggier
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Reha Rheinfelden: Forschungspreis 2023 für MS-Studie

Nadine Patt von den Kliniken Valens untersuchte neue Methoden gegen Fatigue bei Patienten mit Multipler Sklerose.

image

«Man kriegt die volle Reichweite – und kommt zugleich in alle Nischen»

Seit Mitte Januar arbeiten Medinside Jobs und med-jobs.com zusammen. Fürs Employer Branding entsteht eine starke Kommunikations-Drehscheibe. Was sie bietet, sagt Stephan Meier-Koll, Head of Sales Medinside.

image

Angebote der Rehaklinik Seewis

Die Rehaklinik Seewis hat sich auf kardiologische, psychiatrisch-psychosomatische und internistisch-onkologische Rehabilitation sowie Prävention spezialisiert. Dieser Artikel stellt die Situation für Patientinnen und Patienten beim Eintritt sowie die Angebote der Rehaklinik vor.

image

Alexander Gäumann wird CEO der Reha- und Kurklinik Eden

Der heutige Geschäftsführer der Gesundheit Simme Saane AG löst im März Andreas Kammer bei der Brienzersee-Klinik ab.

image
Gastbeitrag von Roland Wiederkehr

Hypnose: Wirksam, zweckmässig, wirtschaftlich – und ignoriert

Hypnosetherapien könnten helfen, die Gesundheitskosten einzudämmen. In den Spitälern der Romandie sind sie bereits verankert. Wann folgt die Deutschschweiz?

image

Rehakliniken: Erfolgsfaktoren fürs Digitalisierungsprojekt

Rehakliniken haben besondere Anforderungen an die IT. Sieben Aspekte, die bei anstehenden Digitalisierungsprojekten für sie entscheidend sind.