«Wir sind nächste Woche in den Ferien und es wird niemand da sein, der sich um Grossmutter kümmern kann. Kann sie so lange hier im Spital bleiben, bis wir zurück sind?» – Diese Frage stellte mir kürzlich die Tochter einer Patientin, deren Zustand nach erfolgreicher Behandlung stabil war.
Ich arbeite in einem Universitätsspital – nicht in einer Übergangspflege-Einrichtung, nicht in einem Pflegeheim. Trotzdem begegnen mir solche Bitten beinahe täglich. Es sind keine medizinischen Fragen mehr, sondern soziale Hilferufe.
Ignatius Ounde ist Pflegefachmann und arbeitet als Fachexperte in der medizinischen Onkologie und Hämatologie am Universitätsspital Zürich. Er war Co-Präsident des SBK Aargau-Solothurn und sass als GLP-Vertreter im Grossen Rat des Kantons Aargau.
Ich dachte kurz nach – und antwortete, wie es mir meine 18 Jahre in der Schweiz beigebracht haben: diplomatisch, aber klar. «Ich verstehe gut, dass Sie nächste Woche nicht da sein werden. Aber der Zustand Ihrer Mutter ist stabil, ihre Laborwerte haben sich normalisiert. Aus medizinischer Sicht gibt es keinen Grund mehr, sie im Spital zu behalten. Ich empfehle Ihnen eine Übergangspflege oder eine Kur – das unterstützt ihre Genesung.»
Solche Situationen sind längst keine Ausnahme mehr. Unser Pflegesystem gerät an seine Grenzen – und das Spital wird zum Auffangnetz, weil andere Versorgungsformen fehlen.
«Pflege darf nicht länger aus der Perspektive der Lücke gedacht werden. Sie gehört ins Zentrum unseres Gesundheitssystems.»
Was wir in der Schweiz erleben, ist kein Einzelfall. Auch die österreichische Ärztin Monika Ferlitsch
beschreibt diese Entwicklung treffend: Akutspitäler werden zunehmend zur Lösung für Betreuungslücken – obwohl sie dafür weder gebaut noch ausgerüstet sind.
Ich mache den Angehörigen keinen Vorwurf – ganz im Gegenteil. Ich sehe, wie sie kämpfen: mit der Pflege, mit dem Alltag, mit ihrer eigenen Belastung. Sie geben ihren Beruf auf, verzichten auf Einkommen, verlieren soziale Kontakte – alles aus Liebe.
Ich habe erschöpfte Töchter, verzweifelte Ehemänner, überforderte Enkel erlebt. Immer mit demselben Satz: «Ich kann nicht mehr. Bitte helfen Sie.»
Doch genau da beginnt das Dilemma: Wenn pflegende Angehörige ausfallen, bleibt oft nur das Spital – nicht aus medizinischer Notwendigkeit, sondern weil es keine Alternativen gibt.
Zahlreiche Studien untermauern die Entwicklung:
- Obsan-Bulletin 3/2022: Der Pflegebedarf wächst rapide, das Angebot hinkt hinterher.
- BFS-Pflegebericht 2020: Die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich bis 2040 verdoppeln.
- H+ warnt vor zunehmenden «sozialen Hospitalisierungen» – also der Belegung von Akutbetten ohne medizinische Indikation.
- Universität Basel (2023): Über 60 Prozent der pflegenden Angehörigen fühlen sich psychisch stark belastet, 40 Prozent wünschen sich mehr Unterstützung.
- OECD & European Observatory: Die Schweiz hat Nachholbedarf bei der Integration von Gesundheits- und Sozialversorgung.
Pflege ist längst eine öffentliche Aufgabe
Im Hintergrund steht auch, dass die Zunahme chronisch kranker und multimorbider Patientinnen und Patienten zunehmend die Grenze zwischen akuter und pflegerischer Versorgung verwischt. Die Frage, wo jemand «richtig» betreut ist, wird schwieriger zu beantworten. In der Praxis erleben wir zudem oft Situationen, wo ein behandelbares Symptom zwar der Anlass für die Spitaleinweisung ist, das zugrunde liegende Hauptproblem aber viel komplexer bleibt. Angehörige oder die Patienten erwarten dann, dass wir im Spital «alles Mögliche» unternehmen.
Ein Beispiel: Eine Patientin kommt mit einer schweren Verstopfung ins Spital, verursacht durch bekannte, fortgeschrittene Metastasen. Die Symptomatik lässt sich behandeln, die zugrunde liegende palliative Situation jedoch nicht heilen. Trotzdem besteht häufig die Erwartung, dass wir neue Untersuchungen einleiten, vielleicht noch einmal «etwas versuchen», um die Tumorerkrankung anzugehen. Diese Diskrepanz zwischen medizinischer Realität und Erwartungshaltung führt oft zu schwierigen Gesprächen.
«Was uns fehlt, ist eine klar strukturierte und abgestufte Pflegearchitektur, die medizinisch, sozial und auch finanziell nahtlos ineinandergreift.»
Zusätzlich prägt die ungleiche Finanzierungslogik auch die Versorgungsentscheidungen: Während Spital- und Reha-Aufenthalte überwiegend von Krankenkassen und Kantonen getragen werden, müssen die Betroffenen die Übergangspflege, Kuren oder sogenannte Ferienbetten häufig selbst finanzieren, ganz oder zumindest teilweise. Das schafft Fehlanreize und führt oft dazu, dass Menschen im Spital verbleiben – obwohl es medizinisch nicht mehr notwendig wäre.
Was tun? Pflege darf nicht länger als Privatsache behandelt werden. Sie ist eine zentrale Säule unserer Gesellschaft – und verdient politische, strukturelle und finanzielle Anerkennung. Was uns fehlt, ist eine klar strukturierte und abgestufte Pflegearchitektur, die medizinisch wie sozial, aber eben auch finanziell nahtlos ineinandergreift:
- Kurzzeit- und Übergangspflegeplätze, die schnell verfügbar und klar finanziert sind – ohne lange Wartezeiten
- Entlastungsangebote für Angehörige: Tagesstrukturen, betreute Ferienaufenthalte, Nachtbetreuung, psychologische Begleitung, Case Management
- Pflegehotels: wohnliche, medizinisch betreute Übergangslösungen.
- Diese Forderungen sind keine Träumereien. Sie sind realistisch – und werden auch vom SBK-Dossier 2023 unterstützt.
Pflege darf nicht länger aus der Perspektive der Lücke gedacht werden. Sie gehört ins Zentrum unseres Gesundheitssystems. Dazu braucht es:
- eine nationale Pflegeplanung,
- eine koordinierte Finanzierung,
- und den politischen Mut, Pflege als das zu behandeln, was sie ist: ein Grundpfeiler unserer Gesellschaft.
Es geht um mehr als Versorgung. Es geht um Würde – für Pflegebedürftige, für Angehörige, für Pflegefachpersonen.
Wenn Akutspitäler weiterhin das tun sollen, wofür sie gebaut wurden, dürfen sie nicht Aufgaben übernehmen müssen, für die sie nie vorgesehen waren. Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir weiter improvisieren – oder endlich vorsorgen?