Wenn Arzt und Patient zusammen am Dossier arbeiten

Als Patient erhält man stets Einblick in alle Notizen des Arztes – ob in der Sprechstunde oder nach der Sprechstunde. Diese Idee mag heute noch verblüffen. Doch sie hat offenbar massive Vorteile. Verändert die «OpenNotes»-Bewegung die Medizin?

, 9. Mai 2016 um 09:17
image
  • praxis
  • patientenakte
  • e-health
  • patientendossier
  • trends
Können Sie sich das vorstellen: Die Patienten sehen jeden Eintrag des Arztes, jede Notiz in ihrem Dossier. Sie haben immer Zugriff darauf. Und wenn der Arzt sonst – in ihrer Abwesenheit – etwas dazu einträgt, erhalten sie eine automatisierte Nachricht.
Die Idee hat offenbar eine Reihe sehr positiver Aspekte; dies besagt jetzt eine Untersuchung von Forschern in Deutschland und den USA. Deren Fazit: Erhalten Patienten vollen Zugriff auf ihre medizinischen Befunde und die Notizen des Arztes, verbessert dies die Arzt-Patienten-Beziehung erheblich. «Wir waren wirklich baff, als wir die Daten ausgewertet haben», sagt einer der beteiligten Mediziner, Tobias Esch von der Universität Witten Herdecke, gegenüber dem Fachdienst «Medscape».
Konkret beobachteten Esch und sein Team den Einsatz des «OpenNotes»-Projekts, das in den USA 2010 als Studie begann, wegen guter Resultate fortgesetzt wurde und inzwischen 5 Millionen Patienten einbezieht.

Mehr Transparenz gleich mehr Verständnis

Die jetzt vorgenommene Bestandesaufnahme bestätigt, dass die Transparenz über die «offenen Notizen» auch das Verständnis für die ärztliche Arbeit beziehungsweise die therapeutischen Massnahmen fördern.
«Dadurch, dass die Patienten alles noch einmal nachlesen und auch die Notizen der Ärzte online einsehen können, haben sie die Möglichkeit, sich noch intensiver mit dem Thema zu beschäftigen, etwas noch einmal nachzulesen oder mit Angehörigen und Bekannten darüber zu sprechen», so eine Erklärung von Tobias Esch.

Tobias Esch, Roanne Mejilla, Melissa Anselmo et al: «Engaging patients through open notes: an evaluation using mixed methods», in: BMJ Open, Januar 2016.

Die Forscher aus Witten/Herdecke und Harvard hatten zuvor rund 1'000 Patienten nach ihren Opennotes-Erfahrungen befragt; und nochmals knapp 200 Patienten gaben danach in längeren Interviews Auskunft. Die wichtigsten Ergebnisse:

  • Während bekanntlich etwa die Hälfte der Patienten beim Arztbesuch nicht genau versteht, was besprochen wird, haben die «Opennotes»-Patienten durchwegs das Gefühl, den Arzt verstanden zu haben.
  • Dass die Patienten dank der Digital-Akte auch die grossen Linien ihres Krankheitsverlaufes ablesen konnten, wirkte für eine grosse Mehrheit vertrauensbildend.
  • Mehrheitlich gaben die Patienten an, dass sich mit Opennotes das Verhältnis zum Arzt verbessert habe.
  • 77 Prozent der Patienten meinten, nun eine grössere Kontrolle über ihre Behandlung zu haben als zuvor.
  • Eine Zweidrittels-Mehrheit konnte durch das Programm ihre Medikation korrekt oder besser dosieren.
  • Einige Patienten gaben zudem zu, zuvor Informationen zum Schutz ihrer Privatsphäre zurückgehalten zu haben. Erst durch die Opennotes-Zusammenarbeit und die Einsicht in die Unterlagen sei ihnen klar geworden, dass diese Informationen zur Behandlung wichtig seien.

  • Besonders bemerkenswert: Fast alle Befragten fanden mindestens einmal einen Irrtum oder ein Missverständnis in den Unterlagen, das sie dank der freien Zugänglichkeit schnell korrigieren lassen konnten. 
«Solche Fehler hatten oft mit der Medikamenten-Einnahme zu tun und können somit durchaus als medizinisch relevant eingestuft werden», so Tobias Esch gegenüber «Medscape».
Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

Hospital-at-Home kommt ans linke Zürichseeufer

Ab sofort können Patienten am linken Zürichseeufer über das See-Spital Horgen, die Hospital at Home AG und die Spitex Horgen-Oberrieden zu Hause statt im Spital behandelt werden.

image

Ein Oensinger Gesundheitszentrum betreibt den ersten «Medicomat» in der Schweiz

Das Gerät im Vitasphère-Gesundheitszentrum funktioniert wie ein Getränkeautomat. Doch statt Flaschen gibt der Automat rund um die Uhr Medikamente heraus.

image

Diese 29 Erfindungen machen die Medizin smarter

Das US-Magazin «Time» kürte die wichtigsten Innovationen des Jahres aus dem Gesundheitswesen. Die Auswahl zeigt: Fortschritt in der Medizin bedeutet heute vor allem neue Schnittstellen zwischen Mensch, Maschine und Methode.

image

KSGR: Frauenklinik führt 4-Tage-Woche ein

Die Frauenklinik Fontana des Kantonsspitals Graubünden führt eine 4-Tage-Woche ein: 42 Stunden werden auf vier Tage verteilt, das Gehalt bleibt unverändert. Andere Spitäler sehen das Modell skeptisch.

image

Erstmals sind mehr Kinder über- als untergewichtig

Es gibt immer weniger Kinder, die unterernährt sind – dafür immer mehr, die zu viel essen. Auch in der Schweiz. Das zeigt der neuste Uno-Bericht.

image

Deutschland: Drogerieriese drängt in Gesundheitsvorsorge

Die Drogeriekette DM bietet neu auch Gesundheitsservices an. Der Konzern arbeitet mit professionellen Partnern – Fachärzte äussern Kritik.

Vom gleichen Autor

image

Spital heilt, Oper glänzt – und beide kosten

Wir vergleichen das Kispi Zürich mit dem Opernhaus Zürich. Geht das? Durchaus. Denn beide haben dieselbe Aufgabe: zu funktionieren, wo Wirtschaftlichkeit an Grenzen stösst.

image

Überarztung: Wer rückfordern will, braucht Beweise

Das Bundesgericht greift in die WZW-Ermittlungsverfahren ein: Ein Grundsatzurteil dürfte die gängigen Prozesse umkrempeln.

image

Kantone haben die Hausaufgaben gemacht - aber es fehlt an der Finanzierung

Palliative Care löst nicht alle Probleme im Gesundheitswesen: … Palliative Care kann jedoch ein Hebel sein.