Im Zentrum steht Alain Berset: Hat er seine Bundesratskollegen angeschwindelt? Oder wurde er von seinen Beamten – insbesondere BAG-Chef Pascal Strupler – im Vorfeld des Tarmed-Entscheids nicht richtig gebrieft? Diese Fragen stellt die
«Weltwoche» in ihrer aktuellen Titelgeschichte in den Raum: «Bersets Kunstfehler», so die Schlagzeile. Die Glaubwürdigkeit des SP-Politikers als integrer Bundesrat drohe beschädigt zu werden.
Die politische Stossrichtung der «Weltwoche» ist hier weniger relevant – bemerkenswert sind aber die Dokumente, welche das Blatt vorlegt: Das Bundesamt für Justiz habe letztes Jahr schwere Vorbehalte gegen den jüngsten Tarmed-Eingriff aus dem Innendepartement angebracht. Unterlagen dazu liegen der «Weltwoche» vor.
«Réserve générale»
So hätten die Juristen des Bundesamts einen Monat vor dem Tarmed-Beschluss der Landesregierung einen «allgemeinen Vorbehalt» («réserve générale») geltend gemacht. Sie könnten die Legalität des Tarifeingriffs nicht «substanziell evaluieren», dazu lägen ihnen vom EDI keine ausreichenden Daten vor.
Die ersten Einwände stammen bereits von Mitte Februar 2017. Damals stellten die Justiz-Prüfer im Rahmen der offiziellen Ämterkonsultation die rechtliche Basis des geplanten Tarifeingriffs in Frage. «[. . .] on peut douter que le Conseil fédéral soit libre de fixer unilatéralement la structure tarifaire», so das Originaldokument. Es sei zu bezweifeln, ob der Bundesrat den Tarifeingriff überhaupt eigenmächtig vornehmen dürfe.
Titelblatt der «Weltwoche» vom 22. Februar, Ausschnitt
Kritisch für Berset ist dabei der Aspekt, dass der Gesundheitsminister diese Einwände im Bundesrat offenbar herunterwischte. Im Antrag zum Tarmed-Eingriff schrieb er, die Bemerkungen des Bundesamts für Justiz (BJ) seien «in ihrer Gesamtheit berücksichtigt» worden. «Es verbleiben keine Differenzen.»
Im Kern war
bereits bekannt, dass es in der Tarmed-Einschätzung zwischen BAG und BJ gewisse Differenzen gab.
Und
bekannt ist auch, dass das Luzerner Kantonsgericht den Tarmed-Eingriff 2014 ablehnte, mit dem Hinweis, dass der Entscheid arg politisch gesteuert gewesen sei – und zuwenig geprägt von Sachgerechtigkeit. Über dieses Urteil wird das Bundesgericht abschliessend entscheiden müssen.
Dignität, Wirtschaftlichkeit, Minutagen
Die «Weltwoche»-Informationen zeigen nun aber auch, wo exakt die Juristen aus dem Departement von Simonetta Sommaruga solche Schwachpunkte gewittert hatten. Ein Vorbehalt des BJ betraf die Dignität, die zweite den Aspekt der Wirtschaftlichkeit: Die Einebnung der Vergütungen für diverse Operationen seien ungenügend legitimiert.
Und auch bei den Minutagen stellte das BJ die Frage in den Raum, ob man alle medizinischen Leistungen in dieses Korsett zwängen könne. Komplexe Fälle könnten damit nicht adäquat erfasst werden. Die Aussage des BAG, «im Durchschnitt sind die ärztlichen Leistungen des Radiologen damit genügend abgebildet», sei falsch: Diese komplexen Fälle seien so nicht sachgerecht abgebildet.
Eingeständnis der Hilflosigkeit
Und schliesslich wandten sich die Juristen gegen die BAG-Aussage, «dass die Leistungen nach wie vor kostendeckend erbracht werden können»: Dies sei «un aveu d’impuissance»; denn der Bundesrat solle die Tarifstruktur nicht ändern, ohne zu wissen, ob die neuen Tarife in der Tat wirtschaftlich sind.
Kurz: Es deutet sich mehr und mehr an, dass die ambulanten Tarife derzeit auf dünnem Eis sind und noch für längere Zeit nur mit Vorbehalten angewandt werden können.
Der Spitalverband H+ hat seinen Mitgliedern denn auch empfohlen, alle Rechnungen für ambulante Leistungen mit einem Vorbehalt zu versehen.
Diverse Spitäler, etwa die Hirslanden-Gruppe, teilen auf all jenen Rechnungen mit, dass man womöglich Rückforderungen geltend machen werde, falls die Anpassungen der Tarifstruktur für ungültig erklärt werden oder nicht angewandt werden dürfen. Ähnlich gehen diverse öffentliche Spitäler vor – darunter USZ, USB und Inselspital.