Die Klinik St. Anna hatte der Krankenkasse Assura 2015 vier Rechnungen für ambulante Behandlungen gestellt. Dabei rechnete die Luzerner Hirslanden-Klinik nach dem alten höheren Tarif (1.08) ab. Der vom Bundesrat verordnete neue Tarif sei «widerrechtlich und deshalb nicht anwendbar», lautete die Begründung. Die Krankenkasse Assura teilte diese Auffassung aber nicht, weshalb sie die genannten Rechnungen als nicht tarifkonform zurückwies.
Der Streit gelangte schliesslich an das Schiedsgericht des Sozialversicherungsrechts in Luzern. Dieses
stellte im Mai 2017 fest: Eine lineare Anpassung der Taxpunkte sei nur zugunsten verbesserter betriebswirtschaftlich bemessenen Tarifpositionen sachgerecht und zulässig. Es sei keine Einigung der Vertragsparteien zustande gekommen – der Bundesrat sei im Stil eines «Zufallsgenerators» vorgegangen.
Politisch? Oder sachlich?
Der unterlegene Krankenversicherer und auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erblickten in dieser Auffassung jedoch eine unzulässige Priorisierung des Aspektes der betriebswirtschaftlichen Bemessung gegenüber den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Billigkeit sowie der kostengünstigen Versorgung. Ferner liege ein unzulässiger Eingriff in das Ermessen respektive die Rechtsetzungskompetenz des Bundesrates vor. Assura gelangte an das Bundesgericht und verlangte die Aufhebung des Luzerner Entscheids.
Und genau dies hat das Bundesgericht nun getan, indem es der Vorinstanz widerspricht: Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) mache keine klaren Vorgaben, wie und welche Anpassungen der Bundesrat vornehmen dürfe. Somit habe der Gesetzgeber der Exekutive einen grossen Ermessensspielraum eingeräumt. Die vorinstanzliche Feststellung, wonach die Anpassung rein politisch begründet und die Kürzung der Taxpunkte von technischen Leistungen (einzig) die kostenneutrale Umsetzung der Besserstellung von Hausärzten bezweckt habe, greift für das oberste Gericht der Schweiz zu kurz.
Bundesgericht: «Jeder Eingriff ist mehr oder weniger willkürlich»
Und weiter: «(Die vorinstanzliche Feststellung) ist insofern nicht haltbar, als die Tarifstruktur Tarmed Version 1.08 hinsichtlich der betroffenen Positionen nicht mehr sachgerecht war, und bereits deshalb ein erheblicher Grund für den bundesrätlichen Eingriff vorlag», steht im am Freitag publizierten Entscheid. Der Bundesrat sei deshalb befugt, sich bei Tarmed-Eingriffen auch von politischen Anliegen leiten lassen. Und auch die lineare Kürzung der Taxpunkte für ausgewählte technische Leistungen heissen die Lausanner Richter gut.
Auch bei Beachtung einer betriebswirtschaftlichen Bemessung und sachgerechten Struktur gibt es für die einzelnen Tarifpositionen nicht nur «die eine» und somit einzig richtige Anzahl Taxpunkte, steht im Urteil weiter. Bei deren Festlegung komme auch eine wertende Komponente zum Tragen, verbliebe doch ansonsten kein Verhandlungsspielraum, der für eine vertragliche Regelung unabdingbar sei.
«Es liegt in der Natur der Sache, dass jeder direkte Eingriff in die Tarifstruktur – wie er in Art. 43 Abs. 5bis KVG vorgesehen ist – mehr oder weniger «willkürlichen» Charakter hat, weil die betriebswirtschaftlichen, im Tarifmodell berücksichtigten Abhängigkeiten, Regeln und Vereinbarungen ausser Acht gelassen werden.
Grundsatzurteil stärkt jetzt Einfluss des Bundesrats
Mit diesem Entscheid stärkt das Bundesgericht Alain Berset den Rücken. Der Gesamtbundesrat hatte auf Anfang Januar 2018 zum zweiten Mal in den Ärztetarif eingegriffen. Eine Gutheissung der Beschwerde der Privatklinik St. Anna hätte auch diese Anpassung in Frage gestellt.
Die Spitalgruppe Hirslanden nimmt das Urteil mit grossem Bedauern zur Kenntnis. «Das Bundesgericht ist unabhängig – aber nicht unpolitisch», heisst es auf Anfrage.
Erleichtert reagieren vor allem die Krankenkassen auf den Entscheid: Der Krankenkassen-Verband
Curafutura nimmt den Entscheid «mit Erleichterung zur Kenntnis». Das Urteil unterstreiche die Rechtmässigkeit des ersten Tarifeingriffs von 2014, teilt der Verband mit. Auch für den Branchenverband
Santésuisse sorgt das Urteil für Rechtssicherheit. «Gewinner des Bundesgerichtsurteils sind die Prämienzahler», heisst es dort.
FMH: Ungleiche Spiesse für Bundesrat und Tarifpartner
Der Ärzteverband FMH hingegen spricht von «Rechtsunsicherheit» und gibt sich «erstaunt», dass sich der Bundesrat nach Ansicht des Bundesgerichts von politischen Anliegen leiten lassen dürfe, während sich die Tarifpartner strikt an die Vorgaben des Krankenversicherungsgesetzes KVG halten müssten.
«Mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts gelten für den Bundesrat neu nicht dieselben Grundsätze: Er darf Taxpunkte bestimmter Positionen linear kürzen und muss damit nicht mehr denselben Vorgaben folgen wie die Tarifpartner.» Der Ärzteverband bekräftigt zudem sein Ziel, mit den anderen Tarifpartnern eine gemeinsame Lösung zu finden, ohne dass der Bundesrat nochmals eingreifen müsse.