Solange wir uns damit beschäftigen, endet die Pandemie nicht

Der Staat bestärkt risikoaverse Personen in ihren Covid-19-Ängsten. Dabei stehen wir weniger schutzlos da als viele meinen.

, 18. Oktober 2021 um 13:21
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Vor unserer Zeit beschrieben Chronisten Epidemien mit einem Anfang, einem Verlauf - aber keinem Ende. Die Seuchen verschwanden irgendwann aus den Chroniken, sie waren nicht mehr erwähnenswert. Die Menschen hatten sich mit der Epidemie arrangiert. 
Heute erwartet eine risikoaverse Mehrheit vom Staat, der Pandemie ein Ende zu bereiten, koste es was es wolle. Erst wenn eine maximale Durchimpfung erreicht ist, sollen die Massnahmen aufgehoben werden. Dabei tragen Geimpfte (vorausgesetzt die Impfung wirkt) keine nennenswerten Risiken mehr. Die Angst scheint unbegründet.
Der Autor: Johannes Barandun ist selbstständiger eidg. dipl. Apotheker.
Dieser absolute Anspruch nach Ausrottung wendet sich gegen Andersdenkende und Andersfühlende, wenn sich diese dem Ziel in den Weg stellen und die Impfung verweigern. Die Extremposition findet auf der Gegenseite bei Skeptikern ihre Entsprechung in einer starken Angst vor dem Verlust von Freiheit und Selbstbestimmung. In die Enge getrieben, treten sie lautstark auf. 
Die Polarisierung der beiden Gruppen ist tragisch und gravierend. Die Pandemie reisst eine ungekannte Bruchlinie entlang dieser neuen Ängste auf, die auch vor Familien nicht halt macht. Vom Staat kommt wenig, was die Gruppen versöhnen könnte. Voraussetzung wäre Vertrauen der Menschen in die staatliche Führung. 

«Verbunden mit dem Mahnfinger des Staates finden Verschwörungstheorien einen guten Nährboden, welcher von den Medien zusätzlich genährt wird.»

Aber die einseitig auf Risiken und Schwächen fokussierte Interpretation von Fakten und Studien durch staatliche Institutionen bestärkt die risikoaversen Personen in ihrer Angst um ihre Gesundheit. Deren Empörung und Unverständnis gegenüber Skeptikern von Massnahmen wächst.

Was sind die Ziele?

Ausgeblendet in der Kommunikation bleiben jedoch nicht nur Risiken und Schwächen der Impfung und der gewählten Strategie selbst, sondern auch deren Ziele. Unzählige Fragen, nicht nur von Skeptikern, bleiben unbeantwortet. Verbunden mit dem Mahnfinger des Staates finden Verschwörungstheorien einen guten Nährboden, welcher von den Medien zusätzlich genährt wird.
Statt nämlich auf solche Fragen einzugehen und diese kontrovers zu diskutieren, argumentieren die Medien in der mittelalterlichen Art der Scholastik mit Zitaten selbsternannter Autoritäten. Oder diese treten gleich selber in den sozialen Medien auf. Die beidseitig unwidersprochene Berichterstattung widerspricht dem Gedanken von Wissenschaft, welche sich gerade an Antithesen beweisen muss. Selbstverständlich finden sich nicht auf alle Fragen Antworten – aber darum geht es nicht. Wichtig ist Transparenz. Massnahmen stehen ansonsten im luftleeren Raum und erscheinen schnell verlogen oder undurchsichtig. 

«Die Zertifikatspflicht transportiert ein diffuses Gefühl von Überwachung und Misstrauen.»

Unabhängig vom Impfstatus ist es eine Demütigung, dass man sich fürs Kaffeetrinken mit einem amtlichen Dokument ausweisen muss. Das betrifft alle. Die Zertifikatspflicht transportiert ein diffuses Gefühl von Überwachung und Misstrauen. Kellner und andere Dienstleister werden ungewollt in eine Machtposition eines Polizisten genötigt.
Bei diesem massiven Eingriff ist erstaunlich, wie oppositionslos die Unterwerfung der Geimpften erfolgt. Ja, diese Pflicht wird nicht selten mit Stolz ausgeübt, stolz wohl, weil die moralische Integrität buchstäblich «ausgewiesen» werden darf.

Skeptiker sichtbar gemacht

Härter trifft es die Skeptiker, die in Ausübung des in der Verfassung garantierten Rechtes, sich nicht impfen zu müssen, als unmoralisch oder unsozial qualifiziert werden. Sie werden sichtbar gemacht und in die Defensive gedrängt. Dabei ist die Zertifikatspflicht sowohl epidemiologisch, demokratisch als auch rechtlich umstritten. 

«Die 'Erst-Impfquote' liegt so tief wie zur Einführung der erweiterten Zertifikatspflicht. Die Massnahme ist offensichtlich nicht zielführend.»

Bei diesen hohen rechtlichen Risiken und sozialen Kosten muss es umso enttäuschender sein, dass die Impfbereitschaft in der Schweiz kaum steigt. Die «Erst-Impfquote» liegt so tief wie zur Einführung der erweiterten Zertifikatspflicht. Die Massnahme ist offensichtlich nicht zielführend. 
Anders die Entwicklung in Dänemark. Mit professioneller und transparenter Kommunikation wurde von Beginn der Pandemie an das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Massnahmen aufgebaut und gestärkt. Statt Ausgrenzung stand Empathie im Vordergrund. Statt Repression Motivation. Das Resultat: eine Durchimpfung, von Vertrauen getragen, die von der Schweiz schwer zu erreichen sein wird.

Verpasste Chancen

Mehr Gelassenheit würde allen gut tun. In der Fokussierung auf das Negative gehen unsere vielen Stärken und Chancen unter.
Einerseits ist die Verbreitungsintensität des Virus von vielen Variablen abhängig. Teils werden sie an Sprachgrenzen sichtbar. Enges Wohnen, das Bildungsniveau, das Wetter, die Genetik, durchgemachte andere Corona-Krankheiten – unzählige Variablen werden diskutiert. Die Schweiz hat hier glücklicherweise ein sehr gutes Profil, welches uns vor hohen «Kämmen» früherer Coronawellen bewahrte. Die Trends waren immer gebrochen, bevor der Staat eingriff.
Aber auch die Durchimpfung mit über 75 Prozent der volljährigen Bevölkerung (inkl. Erstgeimpften) schwächt das Virus. Und «über die ganze Schweiz betrachtet werden wir bald eine Seroprävalenz von 75 bis 80 Prozent sehen», erklärt Milo Puhan von der Universität Zürich
Auch gewisse Verhaltensänderungen – bei der Begrüssung, bei den Abständen – machen es dem Virus schwer, sich zu verbreiten.
Ohnehin stehen wir nicht schutzlos da. Bewährte Massnahmen ohne grosse Eingriffe in unsere Rechte stehen zur Verfügung: etwa Tests bei Einreisen, in Altersheimen oder bei potentiellen Hotspots wie Clubs, Diskotheken, Chören. Auch bieten Pharmaindustrie und die Infektionslehre Grund für Optimismus. Bald werden antivirale Mittel zur Verfügung stehen. Und Viren werden in der Regel mit der Zeit zwar infektiöser, aber harmloser.
Eine chinesische medizinische Studie kommt zum Schluss, «that integrated effects of multiple factors, including immunity waning, ADE, relaxed interventions, and higher transmission ability of variants, make the control of COVID-19 much more difficult. We should get ready for a long struggle with COVID-19, and should not totally rely on COVID-19 vaccine»*
Oder auf Deutsch: Das Virus wird uns noch lange begleiten, es ist ein Trugschluss, aufgrund der Impfung auf ein Ende zu setzen. Auch die heutige Generation wird sich darum mit dem Virus arrangieren müssen wie es frühere Generationen taten.

Kein Garant für Freiheit

Die Impfung ist kein Garant für Freiheit. Israel macht das Zertifikat bereits von einer dritten Impfung abhängig. Sich alle 6 Monate zu impfen – das würde für Jugendliche weit über hundert Impfungen im Leben bedeuten. Und es ist auch keine Lösung, Freiheiten langfristig nur über ein Zertifikat zu gewähren. 

«Die Aufhebung der Covid-Massnahmen ist eine Chance. Sie ist ein wichtiger Schritt, sich mit dem Virus zu arrangieren.»

Auch diese Pandemie wird vermutlich irgendwann zu Ende gehen, ohne dass wir das noch bemerken oder darüber berichten würden.
Die Aufhebung der Covid-Massnahmen ist eine Chance. Sie ist ein wichtiger Schritt, sich mit dem Virus zu arrangieren. Sie könnte versöhnen. Sie wäre ein starkes Signal für alle, Skeptiker wie Befürworter, mit der Botschaft: «Wir haben die Stärke, mit dem Virus zu leben, wir bleiben frei.» Nicht umsonst sprachen die Engländer vom «Freedom Day». Sie haben diesen mutigen Schritt gewagt – und ihn nicht bereut.
* Weike Zhou, Biao Tang, Yao Bai, Yiming Shao, Yanni Xiao, Sanyi Tang: «The resurgence risk of COVID-19 in the presence of immunity waning and ADE effect: a mathematical modelling study», medRxiv preprint, August 2021.

«Wenn ich aus Angst vor Corona mit allem aufhöre, was mir Freude bereitet, ist das für mich kein lebenswertes Leben mehr.»

Prof. Dr. Pietro Vernazza, ehemaliger Chefarzt Infektiologie, Kantonsspital St. Gallen. 
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