Die Studie der Uni Basel gab zu reden: Die «Swiss Corona Stress Study» stützt sich auf die Antworten von 11'000 Personen, die an einer Online-Umfrage teilgenommen haben. Das Resultat: «Der Anteil Personen mit schweren depressiven Symptomen betrug während des Lockdowns im April rund 9 Prozent und stieg im November auf 18 Prozent.»
Eine Verdoppelung muss nicht immer alarmierend sein: Zwei ist doppelt so viel wie eins. Doch wenn 18 Prozent, also fast jede fünfte Person «schwere depressive Symptome» aufweist, so ist das in der Tat besorgniserregend.
Studie ist nicht repräsentativ
Doch Fulvia Rota, seit November Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP), relativiert das Studienergebnis: «Die besagte Studie ist eine Onlineumfrage, an der Menschen teilnehmen, weil sie wissen möchten, ob sie depressiv sind. Das heisst, es gibt einen Bias: Die Teilnehmenden sind nicht per Zufallsgenerator ausgewählt, sondern sie beschäftigen sich mit dem Thema.»
Dies sagt die oberste Psychiaterin in einem Interview mit dem «Migros Magazin». Es handelt sich also um eine Selbsteinschätzung. Man könne nicht sagen, ob diese Menschen auch wirklich eine Behandlung benötigten. Die genannte Verdopplung beziehe sich im Übrigen auf rund 11'000 Personen. Von dieser Zahl könne man nicht auf die ganze Schweiz schliessen.
Viele haben bloss Gesprächsbedarf
Dass Beratungsangebote wie die Dargebotene Hand am Limit liefen, bestreitet die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie im Interview nicht. «Man muss aber unterscheiden, ob die Leute wirklich an einer psychischen Störung leiden und eine längerfristige Behandlung beim Psychologen oder der Psychiaterin benötigen oder ob sie einfach Gesprächsbedarf haben.»
Wenn es einem schlecht gehe, frage man einen nahestehenden Menschen oder eben eine neutrale Person um Rat. Nach dem Gespräch gehe es in der Regel besser. «Dieser Gesprächsbedarf ist wegen Corona eindeutig gestiegen», bestätigt Fulvia Rota. Daraus lasse sich aber nicht schliessen, dass es zu einer Zunahme von schweren Depressionen gekommen sei. «Wegen Corona allein erkrankt niemand an einer schweren Depression.» Um die psychische Gesundheit stehe es in der Schweiz nicht so schlecht, wie es dargestellt werde.
Gleich viele neue Patienten wir vor der Pandemie
Das zeigt auch eine Umfrage bei knapp 2000 Psychiaterinnen und Psychiatern. Knapp 1000 Fachpersonen haben mitgemacht. Mehr als die Hälfte jener, die bei der Umfrage teilnahmen, hatten im zurückliegenden Jahr weniger oder gleich viele Anmeldungen und Anfragen von neuen Patientinnen und Patienten als vor der Pandemie. Bei der Anzahl Behandlungen zeigte sich ein ähnliches Bild.
Psychotherapeuten sehen das anders
Doch die NZZ berichtete am 4. März 2021, dass die Nachfrage nach Psychotherapien in der Schweiz im vergangenen Jahr und besonders seit der zweiten Welle deutlich zugenommen habe. Eine Umfrage von drei Berufsverbänden, an der über 1700 Psychologinnen und Psychologen teilgenommen hätten, habe die zunehmende Auslastung deutlich aufgezeigt.
Zwei Drittel der befragten Psychotherapeutinnen berichteten, dass sie regelmässig neue Patienten ablehnen müssten, da sie keine Kapazität mehr hätten. Im gleichen Artikel wird auch Fulvia Rota zitiert, die umgekehrt versicherte, dass Notfälle nie abgewiesen würden, und längere Wartefristen für Langzeittherapien die Ausnahme seien. «Wer in der Schweiz einen Therapieplatz sucht, der findet in der Regel einen», so Fulvia Rota in der NZZ.
Haben die Psychotherapeuten wohl aus standespolitischen Gründen dramatisiert? Laut NZZ wollen sie auf Versorgungslücken hinweisen, die bereits vor der Pandemie existiert hätten. Damit werben sie für das Anordnungsmodell, das am 1. Juli 2022 in Kraft treten und das heute gültige Delegationsmodell ablösen soll.
Das sagt Yvik Adler
Haben die Psychotherapeuten wohl aus standespolitischen Gründen dramatisiert? «Das weise ich klar zurück und entspricht auch in keiner Weise dem, was ich und viele Kolleginnen und Kollegen in ambulanten Praxen täglich erfahren, nämlich eine grosse Versorgungsnot und enorm viele Anfragen von Menschen in psychischer Not».
Dies sagt Yvik Adler, Co-Präsidentin der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP). «Eine Umfrage bei unseren Mitgliedern zeigte klar, dass die Nachfrage nach psychologischer Unterstützung schon vor der zweiten Welle der Pandemie gestiegen war und durch den Winter noch einmal angestiegen ist.»
Yvik Adler weist darauf hin, dass dies nicht im Widerspruch zu den Zahlen der SGPP stehe. «Die Umfrageergebnisse der SGPP zeigen deutlich, dass auch bei den Psychiaterinnen und Psychiatern die Zahl der Behandlungen im Jahr 2020 gegenüber 2019 gestiegen ist und die Wartefristen länger geworden sind. »
Wie daraus der Schluss gezogen werden könne, dass der Bedarf nach Behandlungen sich nicht erhöht habe, ist für Yvik Adler nicht nachvollziehbar. Den erhöhten Bedarf bestätige auch das neueste FMH-Monitoring: Insgesamt verzeichneten Arztpraxen 2020 gegenüber 2019 einen Umsatzrückgang, mit Ausnahme der psychiatrischen Praxen, die 2020 mehr Leistungen erbrachten als 2019.