Frau Zybach, der auf Mitte 2025 angekündigte Bericht des Bundesrats zur Angehörigenpflege ist nun veröffentlich: Ihr Urteil in einem Wort?
Ambitionslos.
Was hätten Sie erwartet?
Ich hätte mir gewünscht, dass der Bundesrat Verantwortung übernimmt und klare Regeln definiert. Doch er hat es versäumt, einen OKP-Tarif für pflegende Angehörige festzulegen. Das ist aus meiner Sicht verantwortungslos.
So teilen Sie die Haltung der Krankenkassen, dass der KVG-Beitragssatz für die Angehörigen gesenkt werden sollte? Dass es einen separaten OPK-Tarif für Angehörige braucht?
Ja, das sehe ich auch so. In der Entschädigung sind viele Aufwände enthalten, die bei Firmen, die ausschliesslich Angehörige anstellen, gar nicht anfallen. Es geht nicht nur um Wegzeiten oder Weiterbildung. Auch die Einsatzplanung ist aufwendig – etwa bei Ferienvertretungen oder krankheitsbedingten Ausfällen von Spitex-Angestellten. Diese organisatorischen Aspekte verursachen Kosten, die bei der Angehörigenpflege nicht anfallen. Im Bericht kommt dies zu kurz.
Der Bundesrat räumt ein, dass die Gestehungskosten der Grundpflegeleistungen durch pflegende Angehörige tiefer sind, als wenn diese Leistungen von anderen Angestellten erbracht werden. Er sagt, die Kantone sollen das bei der Restkostenfinanzierung berücksichtigen.
Wie soll das in der Praxis funktionieren? Wir haben 26 Kantone – teilweise sind sogar Städte und Gemeinden für die Restkosten zuständig. Sie sollen nun individuell regeln, wie sie das umsetzen? Das ist viel zu komplex und wird die Probleme der Unterschiedlichkeit, die der Bundesrat bereits 2018 erkannt hat, nur wiederholen.
Die Berner Oberländerin Ursula Zybach, Jahrgang 1967, ist seit Dezember 2023 Nationalrätin der SP, Vorstandsmitglied von Spitex Schweiz und seit 2018 Präsidentin des Spitex Verbands Kanton Bern. von 2002 bis 2013 arbeitete die in Spiez wohnhafte Zybach als Mitglied der Geschäftsleitung bei der Krebsliga Schweiz. Von 2009 bis 2022 war sie zudem Präsidentin von Public Health Schweiz Sie absolvierte ein Studium der Lebensmittelwissenschaften an der ETH Zürich, das sie als diplomierte Lebensmittelingenieurin ETH abschloss.
Ist es für Spitex-Organisationen nicht vor allem wichtig, dass gleiche Spiesse herrschen? Dass Firmen, die ausschliesslich Angehörige anstellen, nicht gleich entschädigt werden wie Spitex-Organisationen?
Für mich ist es nicht ersichtlich, warum von einem tieferen Beitragssatz ausschliesslich die Restfinanzierer, also Kantone und Gemeinden, profitieren sollen. Damit fällt ein wesentlicher Grund für sie weg, hinzuschauen und zu reagieren. Ausserdem bleiben die Krankenkassenprämien ein wichtiges Thema bei der Bevölkerung. Hier hätte der Bundesrat sehr einfach etwas gegen die hohen Prämien machen können. Von einer Senkung der Restkostenfinanzierung profitieren ausschliesslich die Steuerzahlenden. Wenn Angehörige ihre Familienmitglieder kostengünstiger pflegen, müssen auch die Prämienzahlenden etwas davon haben.
Der Bundesrat sagt, die Leistungen von Angehörigen und Spitex-Fachpersonen seien bei der Grundpflege gleichwertig. Stimmen Sie dem zu?
Ja, in Bezug auf die Grundpflege kann ich das unterstützen. Gemeint sind dabei Tätigkeiten wie An- und Ausziehen oder Hilfe bei der Zahnpflege. Das können Angehörige genauso gut übernehmen wie Fachpersonen. Natürlich geht es nicht um medizinische Aufgaben wie das Anlegen von Wundverbänden oder das Richten von Medikamenten. In diesem Punkt sehe ich keinen Widerspruch.
Und doch denke ich, dass die Arbeit der Angehörigenpflege nicht unterschätzt werden sollte.
Darauf wollte ich gerade hinweisen: Die Angehörigenpflege bringt auch Herausforderungen mit sich, die es speziell anzuschauen gilt: Der Umgang mit Nähe und Distanz, die verschiedenen Rollen, die pflegende Angehörige vereinen, zum Beispiel gleichzeitig als Partner und als Pflegende. Und nicht zuletzt auch die in der Regel grosse Verfügbarkeit der Angehörigen.
Ist es eigentlich unbetritten, dass Angehörige für die Grundpflege entschädigt werden?
Ja, es ist richtig und wichtig, dass diese Arbeit nicht gratis ist. Angehörige zu pflegen ist sehr anspruchsvoll, physisch und psychisch sehr belastend, manchmal auch finanziell. Das darf man nicht ausklammern.
Aber die Angehörigenpflege darf nicht zu einem Geschäftsmodell werden. Leider ist sie das heute schon. Es ist völlig in Ordnung dass Angehörige pro Stunde 30 bis 35 Franken verdienen. Es ist aber überhaupt nicht okay, dass diejenigen, die das in die Wege leiten, sich eine goldene Nase verdienen, weil sie weniger Aufwand haben als Spitex-Organisationen.