Ethische Fragestellungen sind vor allem auch in Krisenzeiten gefragt. Zum Beispiel, wenn es darum geht, gesundheitspolitische Massnahmen mit wirtschaftlichen Interessen abzuwägen, wie derzeit in der Corona-Krise. «Aus einer ethischen Perspektive ist die Sache jedoch sehr klar», sagt Thomas Beschorner, Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen
(HSG).
Ökonomische Fragestellungen seien zwar eine wichtige Nebenbedingung, um zu einer Entscheidung zu gelangen. «Aber wenn es mitunter ganz ungeniert heisst, es müssten notfalls einige Menschen geopfert werden, um unsere Wirtschaft am Laufen zu halten, dann ist das ethisch nicht statthaft». Für Beschorner wäre das «neoliberale Euthanasie», sagt er
in einem Interview mit der Zeitung «Zeit», wo er verschiedene Optionen für die bevorstehende Exitstrategie analysiert.
Kontrollierte Infizierung nicht vorschnell wegschieben
Es mehren sich derzeit auch die Stimmen, die weite Teile der Bevölkerung kontrolliert von Ärzten mit dem Coronavirus infizieren lassen wollen. Dieser Vorschlag ist dem bekannten Wirtschaftsethiker zufolge kontrovers und mit zahlreichen ethischen Problemen verbunden. Ihn jedoch aus ideologischen Gründen ad hoch abzulehnen, hält er für falsch.
«Ich würde mich in der Tat dafür aussprechen wollen, ihn in das Set möglicher Szenarien aufzunehmen und über seriöse Modellrechnungen eingehender zu studieren», erklärt er im Interview. Wenn auch nur die geringste Chance bestehe, dass eine kontrollierte Infizierung eine bessere von vielen schlechten Lösungen sei, wenn wir als mehr Menschenleben retten können, dann sollten wird diese Möglichkeit nicht vorschnell wegschieben.
Thomas Beschorner, Ordinarius und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen. | Uni St. Gallen
«Es wäre ein Hochrisikoexperiment», Interview mit Thomas Beschorner, Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen, in: «Die Zeit».Keine Zwangsverordnung vom Staat
Es wäre allerdings ein Hochrisikoexperiment, keine Frage, wie der Wirtschaftsethiker weiter sagt. «Wenn wir aber davon ausgehen, dass es die Menschen eher früher als später wieder in das soziale und öffentliche Leben ziehen wird, dann wäre die Alternative zu einer kontrollierten Infizierung eine unkontrollierte Durchseuchung der Bevölkerung.»
Natürlich könnte der Staat eine kontrollierte Infizierung weiter Teile der Bevölkerung laut Beschorner nicht zwangsverordnen. «Jeder einzelne müsste darüber selbst entscheiden.» Auch hier müsste man den Menschen dann sehr klar sagen, dass sie durch eine aktive Infizierung ihr Leben aufs Spiel setzen, wie er erklärt. Und es müssten ihm zufolge wenigsten zwei medizinische Voraussetzungen erfüllt sein. «Erstens, dass durch eine Erkrankung tatsächlich eine Immunität einsetzt. Und zweitens, dass die Mortalitätsrate im Durchschnitt der Bevölkerung deutlich geringer ist als bei den sogenannten Risikogruppen.»
Nicht nur auf Virologen hören
Zur Frage nach der Ausarbeitung einer Exitstrategie aus der Massenquarantäne würde es Thomas Beschorners Meinung nach der Diskussion helfen, wenn auch Sozialwissenschaftlerinnen und Philosophen stärker gehört würden. « Mein Eindruck ist, dass man im politischen Entscheidungsprozess vor allem auf Virologen hört.» Und das sei natürlich auch erst einmal richtig, denn das seien die Experten im medizinischen Bereich.
Aber es gebe eben auch eine ganze Reihe von ethischen Fragen, die sich aus jedem Szenario ergeben. Das Problem lasse sich nicht allein technisch oder mit Statistiken und Wahrscheinlichkeiten lösen, sagt der bekannte Wirtschaftsethiker. Die Zeit werde knapp, weil die Menschen eher früher als später wieder nach draußen drängen würden. «Die Einschränkungen sind für die Menschen enorm und nur schwer erträglich.»