Es gibt keine scharfe Abgrenzung zwischen Grund- und Zusatzversicherung

Heinz Locher und Markus Moser widersprechen in ihrer Replik einigen Aussagen von Daniel Heller über die Abgrenzung von grund- und zusatzversicherten Spitalleistungen. So klar, wie sie meinen, ist die Sache aber nicht. Und das ist gut so.

, 2. Juli 2021 um 09:00
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Wie die Medizin haben auch Paragraphen neben den erwünschten Wirkungen unerwünschte Nebenwirkungen. Ich schätze das Wissen von Heinz Locher und Markus Moser im Bereich der Krankenversicherung sehr. Ihre Replik auf die Kolumne von Daniel Heller ist teilweise so vereinfachend und gefährlich wie die Aufsichtstätigkeit des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) sowie der Finanzmarktaufsicht (Finma), dass eine differenzierte Betrachtung nötig ist.

Keine scharfe Abgrenzung zwischen Grund- und Zusatzversicherung

Locher/Moser: «Die ärztliche Behandlung als solche ist durch die OKP-Pauschale bereits vollständig abgegolten. Das Spital stellt als Leistungserbringer seine Zusatzleistungen in Rechnung.» Richtig! Was Zusatzleistungen sind, definieren die beiden Kenner der Materie aber nicht. Sie würden es sicher tun, wenn es eine klare Abgrenzung zwischen grund- und zusatzversicherten Spitalleistungen gäbe.
Locher/Moser: «Patienten und Patientinnen, welche sich in so genannten Privatabteilungen eines Spitals aufhalten, sind also keine Privatpatienten, welchen für Leistungen der OKP noch ein zusätzliches ärztliches Honorar in Rechnung gestellt werden kann. Der Grundsatz des Tarifschutzes schliesst solche Zusatzrechnungen aus.» In dieser Absolutheit ist diese Aussage schlicht falsch, denn so einfach ist es nicht, weil die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) gemäss Krankenversicherungsgesetz (KVG) das Leistungsniveau als «wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich» definiert. Ausserdem gilt das Vertrauensprinzip: Ärzte und andere Gesundheitsfachpersonen sind gut ausgebildet und haben einen Spielraum bei der Auslegung dessen, was wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich ist. Auf Verordnungsstufe und mit dem Anordnungsprinzip wird dieser Spielraum je nach Fall und Fachperson unterschiedlich eingeschränkt. Folglich – und das ignorieren Heinz Locher und Markus Moser – besteht nicht nur in der Hotellerie, nicht nur in der spitalinternen freien Arztwahl und nicht nur in der freien Wahl eines nicht dringenden Untersuchungs- oder OP-Termins, sondern auch im medizinischen Bereich ein gewisser Spielraum für ambulante und stationäre Mehrleistungen über den OKP-Standard hinaus. Das können zum Beispiel neue und teurere OP-Verfahren, teurere und bessere Implantate oder Medikamente oder zusätzliche Konsultationen oder Therapiesitzungen sein. Der Tarifschutz verbietet bloss Zusatzentgelte für den tarifierten OKP-Standard.

Mehr Bürokratie ist kein wirksamer Konsumentenschutz

Auch die von Locher/Moser am Schluss ihrer Replik erwähnten drei Punkte möchte ich etwas differenzierter einordnen, denn die beiden Experten suggerieren, dass mit Geboten und Verboten jedes vermeintliche Problem gelöst werden kann. Sie meinen erstens, dass Bonus-Zahlungen an Ärzte, die Spitälern Patienten bringen, «neuerdings stark kritisiert» werden. Ja, Boni, die a) auf nur quantitative statt auch qualitative Kriterien wie Behandlungserfolg basieren, b) kurzfristig statt langfristig orientiert sind und c) Einzelleistungen statt Teamwork belohnen, sind in jeder Branche Gift und nicht nur im Gesundheitswesen. Und selbst wer Boni auf nachhaltige Kriterien ausrichtet, sollte die intrinsische Motivation nicht ignorieren und wissen, dass materielle Belohnungen die intrinsische Motivation korrumpieren.
Zweitens stellen Locher/Moser fest, dass Spitalzusatzversicherte «kein tarifliches Freiwild zur Sanierung der Spitalfinanzen» sind und dass im für Zusatzversicherungen massgebenden Versicherungsaufsichtsgesetz der «Schutz der Versicherten vor Missbräuchen» verankert ist. Man könnte diese Querfinanzierung auch als soziales Engagement der privilegierten Zusatzversicherten betrachten. Ich befürchte aber, dass die massiven Interventionen der Finma das Kind mit dem Bade ausschütten, denn der beste Schutz der Versicherten ist ein funktionierender Wettbewerb. Und dieser Wettbewerb wird durch die übereifrige Finma behindert. Erstens wird niemand gezwungen, eine Zusatzversicherung abzuschliessen. Zweitens ist die Beurteilung des Preis-Leistungs-Verhältnisses bei freien Kaufentscheiden – das gilt auch für Krankenzusatzversicherungen - eine sehr subjektive Angelegenheit. Und drittens wäre mehr Freizügigkeit der ab 50 faktische gefangenen Zusatzversicherten der bessere Schutz vor Missbrauch als die Interventionen der Finma.
Dem dritten Punkt ist nichts hinzuzufügen: «Die Tarife der obligatorischen Krankenpflegeversicherung sind bzw. sollten ohnehin so bemessen sein, dass gut geführte Spitäler ihren Investitionsbedarf finanzieren können. Dieses Ziel wird bei der heute postulierten, willkürlichen Praxis (z.B. die Orientierung am 25. Perzentil) auf jeden Fall verfehlt.» Auch in der OKP ist wie bei den Zusatzversicherungen eine übereifrige Aufsicht am Werk, die auf Verordnungsstufe oder in Kreisschreiben auf zum Teil zweifelhafter gesetzlichen Grundlage zusammen mit den Kantonen den KVG-Grundsatz des regulierten Wettbewerbs immer mehr aushebelt. Und das Parlament ebnet diesen Weg mit immer mehr schlechter Regulierung.

  • Replik zur Kolumne von Daniel Heller: Eine problematische Fehlbeurteilung

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