Darmkrebsvorsorge: «Die Deutschen sind uns um zehn Jahre voraus»

Neun von zehn Erkrankungen an Dickdarmkrebs liessen sich heute vermeiden, wenn alle Personen ab 50 konsequent zur Voruntersuchung gingen. Das sagt Peter Netzer vom Gastroenterologie Zentrum Lindenhofspital Bern.

, 8. Juli 2018 um 21:22
image
  • ärzte
  • peter netzer
Herr Netzer, ich liess kürzlich bei Ihnen eine Koloskopie machen. Warum haben Sie mir darauf nicht Viagra verschrieben?Koloskopie ist eine ernsthafte Untersuchung. Warum soll ich Ihnen ein Lifestyle-Produkt verschreiben?
Gemäss einer Studie des Medical College of Georgia senkt Viagra das Darmkrebsrisiko.Das ist für mich sehr fragwürdig. Die Nebenwirkungen von Nutzen und Risiko stehen in keinem Verhältnis. Zur Senkung des Darmkrebsrisikos gibt es viel bessere Methoden.
Ich bin gespannt.Ganz einfach: Das Risiko kann man verhindern, wenn man gesund lebt. Wir wissen, dass Übergewicht, Rauchen, zu wenig Bewegung und eine ungesunde Ernährung ein Risikofaktor für Darmkrebs ist.
Das sagt man bei allen Krankheiten.Das ist so. Rauchen ist nicht nur schlecht für die Lunge, sondern auch schlecht für den Dickdarm. Raucher haben im Vergleich zu Nichtrauchern ein zehnfach höheres Risiko, an Lungenkrebs und ein dreifach höheres Risiko, an Darmkrebs zu erkranken. Bei Übergewicht gibt es dreimal häufiger Dickdarmkrebs. Rohes Fleisch im Übermass ist übrigens auch nicht gut für den Dickdarm.
Und warum ist die Bewegung wichtig?Wenn man zu wenig Bewegung hat, bleiben all die Giftstoffe zu lange im Körper. Das erhöht das Risiko für Dickdarmkrebs.
In Waadt und Uri werden Personen zwischen 50 und 69 Jahren jedes zweite Jahr mit einem Brief auf das flächendeckende Programm zur Früherkennung von Darmkrebs aufmerksam gemacht. Was halten Sie davon?
Das finde ich sehr gut. In Deutschland haben die Krankenkassen schon um 2003 damit angefangen, ihre Kunden zur Darmkrebsvorsorge zu ermuntern. Sie sind uns diesbezüglich zehn Jahre voraus. Der Slogan lautet: «Wenn Sie Ihren Nächsten lieben, schicken Sie ihn zur Vorsorge».

«Man muss wissen, dass nur ein Drittel der Bevölkerung bei solchen Früherkennungsprogrammen mitmacht.»

Bern will nichts wissen von einem flächendeckenden Programm – aus Kostengründen.Da wird am falschen Ort gespart. Aber man muss wissen, dass nur ein Drittel der Bevölkerung bei solchen Früherkennungsprogrammen mitmacht. Zwei Drittel machen davon nicht Gebrauch.
Ist das auch in Deutschland so?Dort nimmt die Beteiligungsquote langsam zu, weil das Programm schon seit 15 Jahren läuft und die Bevölkerung zunehmend sensibilisiert wird. Doch eine Beteiligung von 80 oder 90 Prozent wird man nie erreichen. 50 Prozent wäre schon super. Mit jedem Dickdarmkrebs, der sich verhindern lässt, spart man viel mehr an Gesundheitskosten, als man auf der anderen Seite für die regelmässigen Voruntersuchungen ausgeben müsste.
Stimmt das? Lässt sich das beweisen?Die Erfahrungswerte aus Deutschland sind eindeutig. Sie verzeichnen in den zehn Jahren, seit sie mit der Darmkrebsvorsorge angefangen haben, eine massive Reduktion von Krebsfällen. Es ist erwiesen, dass man mit der Darmkrebsprävention viel Geld sparen kann.
Sie sagten einmal in einem Interview, Ziel der Voruntersuchung sei es nicht, einen Krebstumor aufzuspüren, sondern die Polypen rechtzeitig zu erfassen und zu entfernen.Die Früherkennung von Dickdarmkrebs verläuft anders als bei anderen Vorsorgeuntersuchungen. In den meisten Krebsvorsorgeuntersuchungen sucht man den Tumor. Die Vorstufe, die zum Tumor führt, kennen wir nicht. Beim Dickdarm ist das anders. Hier kennen wir die Vorstufe vom Krebs, die Polypen. Wir suchen also nicht primär den Tumor, sondern die Polypen, die sich mehr oder weniger problemlos entfernen lassen. So gesehen sind wir dem Krebs voraus, wenn wir die Vorstufe entfernen können.
  • image

    Peter Netzer

    Vor 62 Jahren in Savognin geboren und dort aufgewachsen, leitet Peter Netzer seit 2006 das Gastroenterologie Zentrum Lindenhofspital Bern. Zuvor war er während fünf Jahren stellvertretender Chefarzt und Leiter Endoskopie, Gastroenterologie im Inselspital in Bern.

Das kann man aber nur mit der Koloskopie, nicht aber mit dem Blut-Stuhl-Test, oder?Bei den Stuhl-Tests sucht man das versteckte Blut im Stuhl, so genanntes okultes Blut. Es ist dermassen vermischt mit dem Stuhl, dass man es nur mit speziellen Testverfahren eruieren kann. Solche Tests sind schon nützlich, aber leider nur in 30 Prozent der Fälle.
Wie ist das zu verstehen?Mit diesen Bluttests findet man nur 30 Prozent der Polypen und Tumore. Das heisst, die Ausbeutung liegt nur bei 30 Prozent.
Habe ich Sie richtig verstanden: Nur in 30 Prozent der Fälle, wo bereits ein Tumor am wuchern ist, gibt der Bluttest ein positives Resultat? Das bringt ja nichts.Ich sage immer: Ein Drittel ist besser als gar nichts.
Also kommt man eigentlich um eine Koloskopie nicht herum.Mit der Darmspiegelung ab 50 kann das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, um 80 Prozent reduziert werden. Und mit den Stuhltests nur zu 30 Prozent; bei neuern Testmethoden bis zu 35 Prozent.
Pro Jahr erkranken um die 4000 Menschen an Dickdarmkrebs. Multipliziert mit 100'000 gibt also einen Betrag von 40 Millionen Franken. So ungefähr. Zwischen 60 bis 70 Prozent dieser Personen sterben innerhalb von fünf Jahren. Man muss sich das mal vor Augen halten: Über 10 Personen pro Tag erkranken an Dickdarmkrebs. Das ist viel zu viel.

«Im Sreening-Alter zwischen 50 und 70 hat etwa ein Drittel der Bevölkerung Polypen, die zu Krebs führen können.»

Wie viele wären es, wenn sich jeder einer Voruntersuchung unterziehen würde?Im Sreening-Alter zwischen 50 und 70 hat etwa ein Drittel der Bevölkerung Polypen, die zu Krebs führen können. 10 Prozent der Männer und 5 Prozent der Frauen sind früher an Dickdarmkrebs erkrankt und daran gestorben. Mit einer flächendeckenden Prävention könnte man laut Schätzungen die Zahl von 4000 auf 400 reduzieren. Neun von zehn Erkrankungen an Dickdarmkrebs liessen sich heute vermeiden.
Wie ist der Trend?Die neusten Zahlen stehen noch aus. Die Zahl der Erkrankungen nimmt nicht mehr zu. Doch eine merkliche Reduktion ist noch nicht auszumachen. Die meisten Patienten, bei denen wir Krebs diagnostizieren, liessen sich nicht voruntersuchen.
Sie haben nun seit zehn Jahren eine eigene Praxis beim Lindenhofspital. Haben Sie in dieser Zeit bei Ihren Patienten eine Veränderung festgestellt?Ja. In den letzten zwei, drei Jahren kommen deutlich mehr Personen zu uns, die keine Beschwerden haben. Früher liessen sich die meisten erst dann untersuchen, wenn sie Beschwerden hatten. 10 bis 20 Prozent meiner Patienten haben keine Beschwerden.
Das ist nicht viel.Auch bei den Hausärzten ist noch nicht überall angekommen, dass man Patienten zur Voruntersuchung schicken sollte.
Was kostet eine Darmkrebsbehandlung im Schnitt?Erkennt man den Tumor im frühen Stadium kostet das um die 30'000 Franken. Wenn aber schon Ableger zum Vorschein kommen, zum Beispiel auf der Leber, diese entfernt werden muss und teure Medikamente verschrieben werden müssen, so kann es über die ganze Behandlung mehrere 100'000 Franken kosten. Im Schnitt dürften es vielleicht 100'000 Franken sein. Genaue Zahlen gibt es nicht.
Und was kostet eine Koloskopie?Rund 700 Franken, wenn alles ohne Probleme verläuft. Müssen noch ein paar wenige Polypen entfernt und zur Begutachtung eingeschickt werden, kommt die Behandlung auf rund 1500 Franken zu stehen.
Eigentlich sollte die Franchise bei Darmkrebsvoruntersuchungen erlassen werden.Das wäre ideal und würde sich punkto Kosten positiv auswirken. Die Krankenkassen wollen aber davon nichts wissen. Wir müssen schon froh sein, dass die Voruntersuchung überhaupt von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) gedeckt ist. Das ist ja erst seit 2013 der Fall. Die ganze Kultur für die Darmkrebsvorsorge muss sich erst entwickeln. 
Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

«Schauen Sie genau, wen Sie heiraten – das meine ich ernst.»

Seilschaften, starre Regeln und intransparente Gehälter bremsen Frauen auf dem Weg zur Chefarztposition. Rückhalt daheim ist entscheidend – und Teilzeit ist problematisch: Das sagt Susanne Renaud, Chefärztin Neurologie am Spital Neuenburg.

image

«Als Arzt nach Deutschland – warum nicht?»

Für Schweizer Assistenzärzte kann die Arbeit an einem deutschen Krankenhaus interessant sein. Die Nachfrage steige, sagt Martin Werner von DocsGoSwiss im Kurzinterview.

image

Zwei neue Ärztinnen in Hasliberg

Ab 1. Mai 2025 verstärken Dr. med. Stefanie Zahner-Ulrich und Dr. med. (SRB) Sonja Krcum Cvitic das Team der Rehaklinik Hasliberg. Mit ihren fundierten Erfahrungen in Allgemeiner Innerer Medizin bzw. Physikalische Medizin und Rehabilitation erweitern sie gezielt die medizinische Kompetenz der Klinik

image

Forschung und Praxis: Synergien für die Zukunft

Dr. Patrascu erklärt im Interview die Verbindung von Forschung und Praxis an der UFL. Er beschreibt die Vorteile des berufsbegleitenden Doktoratsprogramms in Medizinischen Wissenschaften und zeigt, wie die UFL durch praxisnahe Forschung und individuelle Betreuung Karrierechancen fördert.

image

Münchner Arzt vor Gericht wegen Sex während Darmspiegelung

Ein Arzt soll während Koloskopien 19 Patientinnen sexuell missbraucht haben. Er sagt, die Vorwürfe seien erfunden und eine Intrige.

image

Pflege- und Ärztemangel: Rekordwerte bei offenen Stellen

Die Gesundheitsbranche bleibt führend bei der Suche nach Fachkräften. Laut dem neuen Jobradar steigen die Vakanzen in mehreren Berufen wieder – entgegen dem allgemeinen Trend auf dem Arbeitsmarkt.

Vom gleichen Autor

image

Bürokratie in der Reha - Kritik am Bundesrat

Die Antwort der Regierung auf eine Interpellation zur Entlastung der Rehabilitation überzeugt kaum – Reformvorschläge bleiben vage, die Frustration wächst.

image

Das Kostenfolgemodell lässt auf sich warten

Der Ständerat überweist die Motion Wasserfallen an die zuständige Kommission. Man nennt dies Verzögerungstaktik.

image

«Die Angehörigenpflege darf nicht zu einem Geschäftsmodell werden»

Ambitionslos und verantwortungslos - die SP-Nationalrätin Ursula Zybach ist vom Bericht des Bundesrats enttäuscht.