«Das Kostenwachstum ist politisch gewollt»

Santésuisse-Präsident Heinz Brand schreibt in einem Leserbrief, man wolle die Kostenentwicklung in der Physiotherapie nicht «achselzuckend» hinnehmen. Physioswiss-Präsidentin Mirjam Stauffer nimmt Stellung.

, 7. März 2022 um 09:00
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Frau Stauffer, in 10 Jahren haben sich die Kosten in der Physiotherapie auf 1.3 Milliarden Franken pro Jahr verdoppelt. Was sagen Sie dazu?

Das Wachstum in der ambulanten Versorgung ist politisch so gewollt. Man will ambulant vor stationär, eine kürzere Hospitalisationsdauer sowie bessere integrierte Versorgungsmodelle. Dies hat zur Folge, dass die Kosten in diesem Bereich steigen, dies ist auch in der Physiotherapie der Fall.  

Eine Verdoppelung in zehn Jahren… ist das wirklich auf die von Ihnen genannten Gründe zurückzuführen?

Nicht nur. Die altersdemographische Entwicklung und die damit einhergehende Zunahme chronischer Krankheiten sind weitere Gründe. Zudem hat sich die Disziplin Physiotherapie weiterentwickelt. Das schlägt sich in mehr Überweisungen an die Physiotherapie und entsprechend mehr Behandlungen nieder. Die Kostenentwicklung der Physiotherapie ist im Verhältnis zu den Gesamtkosten jedoch stabil geblieben. Ihr Anteil lag in den letzten 20 Jahren zwischen 3 und 4 Prozent.

Allein im letzten Jahr sind die Kosten – immer laut Santésuisse – um 18 Prozent gestiegen.

Ein solcher Vergleich ist unzulässig: 2020, im ersten Corona-Jahr, hatten wir einen Lockdown.  Eine Studie der CSS zeigt, dass in dieser Zeit kein anderer Zweig der Gesundheitsbranche eine derart starke Umsatzeinbusse zu verzeichnen hatte wie die Physiotherapie. 2021 gab es logischerweise einen Nachholbedarf. Wenn man entsprechend die OKP-Kosten in der Physiotherapie über die Jahre 2019 bis 2021 betrachtet, so ergibt sich ein Kostenwachstum von 13.9 Prozent, dies entspricht einem jährlichen Wachstum von 6.8 Prozent.

Was erwidern Sie jenen, die nun sagen, der Lockdown habe gezeigt, dass es auch ohne Physio geht?

Denen sage ich, sie sollen die betroffenen Patientinnen und Patienten fragen, wie sie dies sehen. Ich spreche nicht von den sportlichen Personen, die sich auch sonst bewegen können. Ich spreche von den vulnerablen Patientengruppen, die während des Lockdowns auf Operationen und Behandlungen verzichten mussten und deren Gesundheitszustand sich dadurch verschlechtert hat. Das Gesundheitssystem wird diese Kosten noch zu spüren bekommen, die wegen fehlender oder aufgeschobener Behandlungen entstanden sind.
Wir haben eben erst eine repräsentative Umfrage von GFS-Bern publiziert. 87 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer haben einen guten oder sehr guten Eindruck von der Physiotherapie. Unter den Personen, die bereits einmal eine Behandlung in Anspruch nahmen, haben 91 Prozent angegeben, einen guten Eindruck von der Physiotherapie zu haben. 71 Prozent sind der Meinung, dass ohne Anweisungen durch die Physiotherapie die Gefahr besteht, mehr kaputt zu machen als zu heilen.

Santésuisse sagt, das Kostenwachstum sei auf Fehlanreize und Fehlentwicklungen zurückzuführen.

Im Unterschied zu anderen Gesundheitsberufen kann man in der Physiotherapie nur mit Patientenbehandlungen Umsatz machen. Der Aufwand für all die Berichte, interprofessionelle Versorgung, Triagierung, Anleitungen von Angehörigen wird in der Physiotherapie nicht vergütet. Die Praxen sind voll, es gibt vielerorts Wartelisten, wo ist also der Fehlanreiz?
Zweiter Fakt ist, dass Physiotherapie, mindestens bis anhin – leider muss ich sagen – ausschliesslich auf ärztliche Verordnung stattfindet. Das heisst, Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten werden erst dann tätig, wenn sie Patienten haben, deren Behandlung zulasten der Grundversicherung geht.

Eine Vertreterin von Physio Graubünden schreibt in einem Leserbrief, Physiotherapeuten würden seit 20 Jahren praktisch gleich viel verdienen. Worauf der Santésuisse-Präsident in einer Replik darauf hinweist, dass Physios 2014 eine «namhafte Tariferhöhung» erhielten. Was jetzt?

Ja, es gab eine Tariferhöhung. Aber real, also unter Berücksichtigung der Teuerung , sind eben die Einkommen zwischen 1998 und 2021 der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten nicht gestiegen, im Gegenteil. Meine Kollegin von Physio Graubünden hat recht.

Santésuisse spricht von einer «namhaften Tariferhöhung».

Es waren 8 Rappen, rund 9 Prozent. Das war eine erstmalige Erhöhung seit 15 Jahren. Wobei 2014 noch nicht alle Kassen die Tariferhöhung akzeptiert haben. Sie wurde erst 2016 flächendeckend eingeführt. Tarifstruktur und Anzahl Taxpunkte haben sich nicht verändert. Angepasst wurde nur der Taxpunktwert, der ja von Kanton zu Kanton verschieden ist. Er stieg im Mittel um 8 Rappen.

Wie geht das genau?

Eine normale Behandlung, also eine Sitzungspauschale, hat 48 Taxpunkte. In den Kantonen Zürich und Zug beträgt der Taxpunktwert heute 1,11 Franken, multipliziert mit 48 Taxpunkten ergibt dies einen Betrag von 53 Franken und 28 Rappen. Es gibt aber Kantone, zum Beispiel fast alle Zentralschweizer Kantone,  Jura und Graubünden , bei denen der Taxpunktwert unter einem Franken liegt. Dort beträgt der Umsatz pro Behandlung weniger als 48 Franken.

Laut Santésuisse kommt seit 2018 aufgrund einer weiteren Tarifänderung immer häufiger die «aufwändige Physiotherapie» zum Zug. Sehen Sie das auch so?

Wir haben heute in der Physiotherapie eine vom Bundesrat festgesetzte Tarifstruktur. Der Bundesrat hat nach Anhörung der Tarifpartner auch die Kriterien für eine aufwändige Physiotherapie festgesetzt. Die Krankenkassen überprüfen anhand des Kriterienkatalogs, ob die Voraussetzungen für eine aufwändige Physiotherapie gegeben sind. Offenbar sind die Voraussetzungen erfüllt, wenn mehr abgerechnet wird.

Wie war es denn früher?

Früher waren die Kriterien offener formuliert und es gab eine eigene Tarifposition für die lymphologische Physiotherapie. Diese Position wurde gestrichen und in die Position aufwändige Physiotherapie integriert. Es ist also auch eine logische Konsequenz dieser Anpassung. Aber ich möchte noch etwas zur Kostendiskussion sagen.

Gerne.

Mich stört an der ganzen Kostendiskussion, dass dabei die Wirkung von Leistungen aufs gesamte System ausser acht gelassen werden. Investiert man in die Physiotherapie, können dadurch anderswo Kosten eingespart werden. Studien zu Knie- und Rückenschmerzen zeigen exemplarisch auf, dass hier ein grosses Potential vorhanden wäre. Die Kosten für bildgebende Verfahren, Medikamente, Operationen übersteigen um ein Vielfaches die Physiotherapiekosten. Zugespitzt heisst dies, dass die Physiotherapie bei gewissen Beschwerden das beste Preis-/Leistungsverhältnis im Gesundheitssystem hat. Das heisst: Investiert man in die Physiotherapie, hat das einen positiven Effekt aufs Gesamtsystem.

Wie soll man in die Physiotherapie investieren?

Nehmen Sie das Beispiel des UVG oder der IV. Dort investiert man in die Rehabilitation oder in  Eingliederungsmassnahmen. Dadurch kann man Taggelder und Renten einsparen. Dies müsste meiner Meinung nach auch im KVG-Bereich gelten.
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