Ambulant vor stationär: Der dritte Weg

Dass das Spitalpersonal bei komplexeren Fällen auf Hausbesuch geht: Dieser Ansatz breitet sich in den USA aus. In der Schweiz ist das kein Thema. Höchste Zeit, darüber nachzudenken.

, 25. April 2018 um 04:00
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In der Diskussion um die Verschiebung zwischen stationär und ambulant geht in der Schweiz eine Idee ganz vergessen: Hospital-at-Home. Kurz zusammengefasst geht es bei diesem Konzept darum, Patienten zu ermutigen, sich zu Hause für die stationäre Behandlung zu entscheiden. Ein Modell, das weit über die herkömmliche Spitex-Versorgung hinausgeht. 
Dass dieser Ansatz funktioniert, zeigen die Erfahrungen in Australien, Grossbritannien, Kanada oder in den USA. In diesen Ländern können akut und intensiv erkrankte Patienten mit der richtigen Organisation und Infrastruktur gut zu Hause versorgt werden. So konnte das Spitalpersonal eine ältere Patientin mit akuter Lungenentzündung wirksam zu Hause behandeln, wie ein Beispiel der grossen Spitalgruppe Brigham Health aus den USA zeigt.
Dabei kamen zweimal pro Tag Ärzte und Pflegende zu Hause vorbei und führten die notwendigen Tests durch oder untersuchten das Blut. Ein kabelloser Sensor in Form eines Pflasters überwachte die Vitalparameter und sendete relevante Daten direkt ins Spital. Per Video-Chat war es der 71-jährigen Frau jederzeit möglich, einen Arzt oder eine Pflegefachperson zu kontaktieren.

Signifikant tiefere Kosten

Das Personal von Brigham Health, das seit Jahren diese Art von Behandlung testet, war anfänglich skeptisch. «Doch sie haben schnell erkannt, dass dies eigentlich das ist, was Patienten wollen», erklärt David Levine der Zeitung «Washington Post». Levine arbeitet beim Brigham and Women's Spital und forscht an der Harvard Medical School.
Das Hauptziel des Modells Hospital-at-Home sind tiefere Behandlungskosten. Diese betragen etwa die Hälfte der im Spital behandelten stationären Patienten, wie Levine in einer Studie zeigte. Darin wurden 20 Patienten analysiert: Infektionen, Herzpatienten, Copd oder Asthma. Unerwünschte Ereignisse bei den Pflegepatienten zu Hause gab es keine.
Die geringeren Kosten sind vor allem auf den tieferen Personalaufwand zurückzuführen, weil Mitarbeitende nicht mehr rund um die Uhr zur Verfügung stehen müssen. Patienten, die stationär zu Hause im Bett liegen, verzeichnen laut der Studie weniger Labortests und Besuche von Spezialisten. Die Spitalkette Brigham Health will weitere Analysen durchführen, um das Modell an anderen Erkrankungen zu testen.
Levine David et al. «Hospital-Level Care at Home for Acutely Ill Adults: a Pilot Randomized Controlled Trial.», in: «Journal of General Internal Medicine». Februar 2018.

Auch für intensivpflegebedürftige Patienten

Der Ansatz, der auf Bruce Leff zurückgeht, tritt vor allem in den USA mehr und mehr in Erscheinung. Eine Pionierrolle in den Vereinigten Staaten spielt das bekannte Johns Hopkins Spital (mehr dazu hier). Auch das renommierte Mount Sinai Spital hat mehr als 700 Patienten wirksam zu Hause behandelt – in Kooperation mit spitexähnlichen Organisationen. 
In Europa und insbesondere in der Schweiz spricht kaum jemand über Hospital-at-Home als mögliche Teillösung für tiefere Gesundheitsausgaben und gleichzeitig zufriedenere Patienten. Denn das Modell ist nicht nur für ältere Menschen konzipiert. Auch für andere Gruppen wäre die Idee für die Schweiz mehr als eine Überlegung wert. Es weist nebst tieferen Kosten andere Vorteile auf: So führte das Programm einer Studie zufolge – zusätzlich zu einer halb so hohen Wiederaufnahmerate – auch zu einer kürzeren durchschnittlichen Aufenthaltsdauer: 5,3 Tage im Spital gegenüber 3,1 Tage. Und es könnte schliesslich zu weniger spitalbedingten Infektionen beitragen.

«Digitalisierung verhilft zum Durchbruch»

Es gibt mehrere Gründe, weshalb Hospital-at-Home in der Schweiz weit entfernt vor der Einführung steht und alles andere als aktuell ist. Unter anderem haben es die Spitäler verpasst, sich mit den Spitex-Organisationen zu verbinden oder diese sogar zu übernehmen, erklärt Gesundheitsökonom Werner Widmer. So fehle eine direkte Verbindung zu den Patienten nach Hause – eine gute Voraussetzung für das Konzept. «Kaum ein Spital erwähnt in seiner Strategie die Entwicklung der Zusammenarbeit mit der Spitex», sagt der Direktor der Stiftung Diakoniewerk Neumünster (DKN).
«Die Spitäler sind mehr von ihrer Tradition geprägt als auf die Wünsche ihrer Kunden (Patienten) ausgerichtet», so Widmer weiter, der auch als Präsident des Kantonsspitals Baselland (KSBL) tätig ist. Für die Spitalärzte sei es ferner nicht attraktiv, Hausbesuche zu machen. Und die Pflegenden im Spital wollten auch nicht unbedingt wie die Spitex arbeiten. Es fehlt laut Widmer darüber hinaus auch an der Selbstkompetenz der Bevölkerung in Bezug auf die eigene Gesundheit. 
Doch die Digitalisierung erleichtere und unterstütze Hospital-at-Home und werde zusammen mit den Präferenzen der Patienten der Idee zum Durchbruch verhelfen, glaubt Widmer, der das Thema auch in seinem neuen Buch behandelt. Gut möglich also, dass das Modell dereinst wie Online-Banking in der Gesellschaft verankert sein wird. Die Umsetzung des Konzepts dürfte allerdings nicht einfach werden. Doch Spitalverantwortliche und vor allem Gesundheitspolitiker täten gut daran, zumindest (laut) darüber nachzudenken. 
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