Als nächstes: Der Algorithmus sagt voraus, wann man stirbt

Gleich zwei neue Systeme versprechen, den Todeszeitpunkt von Patienten präzise einzugrenzen. Klingt bedenklich? Es geht um bessere Palliativpflege – und weniger unerwartete Todesfälle in den Spitälern.

, 25. Januar 2018 um 07:20
image
  • trends
  • palliativmedizin
  • ethik
Zuerst tönt es etwas schauderlich: Gleich zwei AI-Entwicklerteams behaupten, dass sie einen Algorithmus entwickelt haben, der den Todeszeitpunkt eines Menschen akkurat voraussagen kann – oder zumindest präziser als Ärzte. Das eine System stammt von der Firma Excel Medical in Florida; es erhielt jetzt von der US-Aufsichtsbehörde FDA eine Zulassung als Medical Device. Sein Ziel: Frühzeitige Warnung. 
Das andere Programm kommt aus der Universität Stanford in Kalifornien: Hier melden die Wissenschaftler, dass ihr Algorithmus, wenn richtig «gefüttert», den Todeszeitpunkt von Patienten zu 90 Prozent richtig voraussagt. Das Ziel hier: Bessere Pallativbehandlung.
Es geht also darum, die Vitalwerte von schwer kranken und insbesondere sterbenden Patienten so genau zu lesen, dass man die Betreuung damit optimieren kann. Die meisten Menschen möchten beispielsweise zuhause sterben – aber mehr als zwei Drittel sterben im Spital. Und in den letzten Wochen und Tagen des Lebens kommt es oft zu Einweisungen, die sich im Rückblick als wenig sinnvoll erweisen. 

Eher zuhause sterben

«Verbesserung der Palliativbetreuung dank Deep Learning»: Schon der Titel der nun veröffentlichten Arbeit aus Stanford zeigt die Stossrichtung.
Die kalifornischen Computerwissenschaftler, Mediziner und Bioinformatiker lasen dafür die Patientendaten von 160'000 Verstorbenen ein, versehen mit früheren Vitalwerten, Krankheitsbefunden, Diagnosen – und der Aussage, wer wann gestorben war. So dass das neuronale Netzwerk lernen und eruieren musste, welche Befund-Kombinationen in welchen Zeitspannen zum Tod führten.
Dann musste das Programm die Erkenntnisse auf die Informationen über gut zwei Millionen Menschen anlegen – ebenfalls im Rückblick. Die Frage, die also an den Test-Datensatz gestellt wurde: Welche Person stirbt innerhalb der nächsten drei bis zwölf Monate?
Die Idee: Wenn man in diesem Rahmen den Todeszeitpunkt recht exakt voraussagen kann, lässt sich sowohl die medizinische Betreuung, der Wechsel von Therapie zu Palliativpflege oder der Prozess der Verabschiedung und die Einbindung der Angehörigen viel besser bewerkstelligen.

Ärzte überschätzen Lebenserwartungen

Laut der neuen Veröffentlichung soll das System also fähig sein, in 9 von 10 Fällen richtig vorauszusagen, ob ein Mensch innerhalb des nächsten Jahres stirbt. Laut dem beteiligten Informatiker Anand Avati könnte solch ein Algorithmus also eine wertvolle Ergänzung zur ärztlichen Arbeit bieten.
Allerdings liegt hier auch ein möglicher Konflikt zwischen Menschlichkeit und Technik: «Studien haben gezeigt, dass die Ärzte die Lebenserwartungen überschätzen», schreiben die Autoren selbstbewusst, «was zusammen mit der Behandlungsträgheit dazu führt, dass sich Patientenwünsche und die Betreuung am Lebensende widersprechen.»
Tendenziell könnte die Berechnung der Lebenswartung durch AI also dazu führen, dass man früher beziehungsweise entschlossener auf gewisse medizinische Massnahmen verzichtet.

Index sagt, wann es kritisch wird

Das gleiche Prinzip, aber angelegt auf einen engeren Zeitrahmen: Dies in etwa der Anspruch des Systems «Wave» von Excel Medical aus Florida. Durch die kontinuierliche Analyse von Blutdruck, Sauerstoffwerten, Temperatur, Herzrhythmus und Atmung errechnet «Wave» einen Index – und zeigt dann die Gefahr an, dass dieser Index in den nächsten Stunden in einen kritischen Bereich kippen könnte.



«Alles, was wir als Organisation tun dreht sich darum, unerwartete Todesfälle in Spitälern auszumerzen», sagt der General Manager von Excel Medical, Lance Burton zum Sinn des Angebots.
Laut klinischen Studien – so meldet Excel Medical – sei das System mittlerweile in der Lage, drohende Instabilität und potentiell tödliche Entwicklungen bis sechs Stunden zuvor zu erkennen.
Während es beim Stanford-System also primär darum geht, eine optimale Betreuung am Lebensende zu sichern, dient «Wave» vor allem zur Entlastung der Spitäler: Das AI-System erlaubt es, kritische Entwicklungen früher zu erkennen und damit auch die personellen Ressourcen besser zu konzentrieren. Und obendrein soll es helfen, unerwartete Todesfälle zu vermeiden. Und, da es früh genug warnt, beispielsweise Angehörige aufzubieten.
Zum Thema:
Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

«Palli-GeMed» soll Genfer Palliativversorgung stärken

Die Universitätskliniken Genf und Genève Médecins starten mit «Palli-GeMed» eine Partnerschaft für bessere Palliativversorgung bei Notfällen.

image

Luzerner Kantonsspital gründet Virtual-Care-Equipe

Das Team soll den LUKS-Patienten unter anderem eine elektronische 24-Stunden-Betreuung, Hospital@Home-Angebote und Tele-Konsultationen bieten.

image

HUG: Neue Präsidentin des klinischen Ethikrats

Catherine Bollondi Pauly wurde als erste Pflegefachfrau Vorsitzende des Ethik-Gremiums des Universitätsspitals Genf.

image

Nach 15 Jahren Pause: Spitalserie kehrt auf die Bildschirme zurück

Ein Klassiker der frühen 2000er soll auferstehen: Der US-Sender ABC plant Revival der Krankenhaus-Sitcom «Scrubs».

image

Zigarettenab­fälle verbreiten resistente Keime

Wenn Zigarettenfilter in Gewässern landen, können sich darauf krankheitserregende Keime und Bakterien mit Antibiotikaresistenzen ansiedeln, zeigt eine Studie.

image

Sätze, die man zu schwerkranken Patienten nicht sagen sollte

«Alles wird gut.» «Kämpfen Sie!» «Was haben die anderen Ärzte gesagt?»: Eine Studie identifiziert Floskeln, die kranke Menschen verunsichern können.

Vom gleichen Autor

image

Überarztung: Wer rückfordern will, braucht Beweise

Das Bundesgericht greift in die WZW-Ermittlungsverfahren ein: Ein Grundsatzurteil dürfte die gängigen Prozesse umkrempeln.

image

Kantone haben die Hausaufgaben gemacht - aber es fehlt an der Finanzierung

Palliative Care löst nicht alle Probleme im Gesundheitswesen: … Palliative Care kann jedoch ein Hebel sein.

image

Brust-Zentrum Zürich geht an belgische Investment-Holding

Kennen Sie Affidea? Der Healthcare-Konzern expandiert rasant. Jetzt auch in der Deutschschweiz. Mit 320 Zentren in 15 Ländern beschäftigt er über 7000 Ärzte.