«Wir haben eine Struktur geschaffen, die empfänglich ist für Falschbeschuldigungen»

Der forensische Psychiater Frank Urbaniok fordert eine differenziertere Betrachtung von Anschuldigungen, besonders bei sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch.

, 16. Juli 2025 um 14:56
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Bild: zvg
Vergangene Woche fand die Kündigung eines Klinikdirektors am Inselspital viel Beachtung. Der Klinikdirektor wurde nach einer Affäre mit einer Oberärztin entlassen –und nun streuen beide Seiten über die Medien gegenseitig Vorwürfe. Was geht ihnen bei solchen Abläufen durch den Kopf?
Vorweg: Den Fall beurteilen kann ich aus der Ferne nicht. Was mir allerdings sofort durch den Kopf geht, ist, dass man hier differenzieren muss und nicht vorschnell urteilen darf. Es gibt hier mehrere Themen, die wir auseinanderhalten müssen: Eine Beziehung am Arbeitsplatz in einem Unterstellungsverhältnis ist generell problematisch, kommt jedoch immer mal wieder vor. Das zweite Thema betrifft Konflikte am Arbeitsplatz; der Oberärztin wurde offiziell aus diesem Grund gekündigt. Nach der Kündigung gab es dann strafrechtliche Vorwürfe, darunter die Anschuldigung sexueller Übergriffe.
Wie beurteilen Sie die Kommunikationsstrategie der Spitalgruppe?
Ich finde, dass das Inselspital in diesem Fall eine vernünftige Linie verfolgt hat. Sie haben die arbeitsrechtlichen Aspekte klar kommuniziert, dabei jedoch auch den Persönlichkeitsschutz gewahrt. Es ist eine herausfordernde Situation, in der es nicht einfach ist, eine ruhige und professionelle Linie zu fahren. Die Entscheidung, der Öffentlichkeit nur die notwendigsten Informationen zu geben und den Rest dem Strafverfahren zu überlassen, halte ich in diesem Fall für richtig.
Erst nach dem Konflikt am Arbeitsplatz kamen Anschuldigungen zu sexuellen Konflikten auf. Wie häufig ist das?
Das ist in der Chronologie durchaus bemerkenswert, wenn solche Vorwürfe in Zusammenhang mit einem anderen Konflikt auftauchen. Das muss die Staatsanwaltschaft nun abklären. Ein weiterer Punkt, der mir auffällt, ist, dass der Anwalt der betroffenen Person dann an die Medien geht, was die Situation noch weiter aufheizt.
Frank Urbaniok lehrt an den Universitäten Zürich und Konstanz und gilt als international führender Forensischer Psychiater mit dem Arbeitsschwerpunkt Gewalt- und Sexualstraftaten. Urbaniok ist als Psychotherapeut, Gutachter, Supervisor und Berater für Unternehmen und Führungspersonen tätig.
Sie haben die differenzierte Betrachtung von Anschuldigungen angesprochen. Wird dieser Aspekt Ihrer Meinung nach zu wenig beachtet, vor allem wenn es um so schwerwiegende Vorwürfe wie sexuelle Übergriffe geht?
Ja, das ist ein Thema, das mich seit Jahren beschäftigt. Verstehen Sie mich richtig – man muss Opfer unterstützen, da stehe ich 150 Prozent dahinter. Es gibt grausamste und fürchterliche Formen des sexuellen Missbrauchs und brutaler Gewalt, das weiss ich leider aus meinem beruflichen Alltag allzu gut. Aber, und das ist mir ein ebenso ein grosses Anliegen: Man muss jede Aussage, jede Anschuldigung unvoreingenommen prüfen. Denn leider nehmen auch Falschbeschuldigungen zu, und diese bleiben oft unter dem Radar der Justiz, der Politik und der Öffentlichkeit.
Es wagt jedoch kaum jemand, dies offen anzusprechen...
Wenn ich darauf hinweise, wird mir oft vorgeworfen, die Glaubwürdigkeit der echten Opfer infrage zu stellen. Das führt uns in eine ideologisch aufgeladene Debatte, in der man nicht mehr ergebnisoffen agiert, sondern in Schwarz-weiss-Kategorien denkt.
Welche Motive stecken hinter Falschbeschuldigungen?
Falschbeschuldigungen kommen im Spektrum von klassischen False-Memories (Betroffene sind subjektiv der Überzeugung, dass ihre falschen Erinnerungen der Wahrheit entsprechen), aggravierten Erinnerungen (realer Kern, der subjektiv ausgebaut und verstärkt wird), subjektiv verzerrten, aber legitim erlebten Wahrheiten bis hin zu direkten und auch taktisch motivierten Falschbeschuldigungen vor.
«Leider nehmen auch Falschbeschuldigungen zu, und diese bleiben oft unter dem Radar der Justiz, der Politik und der Öffentlichkeit.»
Dabei werden Falschbeschuldigungen zunehmend aus taktischen Gründen erhoben, zum Beispiel in strittigen Trennungssituationen. Es ist, als würde man einen Knopf drücken: Sobald der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs oder Machtmissbrauchs im Raum steht, werden sofort Massnahmen verhängt und Abklärungen eingeleitet. Manchmal geschieht das aus Rache oder um die eigene Position zu stärken.
Was bedeuten die Falschbeschuldigungen für die Betroffenen?
Für sie ist es dramatisch, oft bricht ihr ganzes Leben zusammen, Existenzen werden zerstört. Das Thema wird in der Gesellschaft weitgehend ignoriert, und die Falschbeschuldigten werden zu stigmatisierten Opfern. Diese Opfer mag man nicht, weil sie das Narrativ stören. Weil gesellschaftlich gilt: Opfer haben immer Recht. Falschbeschuldigungen sind eine schwere Straftat, die aber häufig wie ein Kavaliersdelikt behandelt wird.
«Überspitzt gesagt sind Kliniken heute mehr Verwaltungsapparate als medizinische Einrichtungen. Die Verwaltung dominiert, was ich als ein grosses Problem empfinde.»
Die Sensibilisierung für Falschbeschuldigungen fehlt in der Gesellschaft. Ich sehe schockierende Fälle, in denen Menschen zu Unrecht zu langen Haftstrafen verurteilt werden, weil nicht sorgfältig geprüft wurde, ob der Vorwurf tatsächlich zutrifft.
Für ein Unternehmen oder ein Spital ist es doch enorm schwierig, Anschuldigungen ernst zu nehmen und gleichzeitig Falschbeschuldigungen zu erkennen. Wie kann man dieses Dilemma lösen?
Das ist in der Tat eine Herausforderung. Aber in den meisten Fällen – etwa 90 Prozent – lässt sich sehr gut feststellen, ob es sich um einen tatsächlichen Übergriff oder eine Falschbeschuldigung handelt.
Wie?
Falschbeschuldigungen werden oft theatralisch inszeniert und folgen bestimmten Mustern, die aus forensischer Sicht gut erkennbar sind. Kliniken müssen klare und transparente Verfahren haben, um Vorwürfe gründlich und objektiv zu prüfen. Aber die Untersuchung sollte völlig ergebnisoffen sein und nicht von Anfang an eine Schlagseite haben.
In diesem Zusammenhang kritisieren Sie auch die zunehmende Dominanz der Verwaltungslogik in Spitälern. Was genau meinen Sie damit?
Überspitzt gesagt sind Kliniken heute mehr Verwaltungsapparate als medizinische Einrichtungen. Die Verwaltung dominiert, was ich als ein grosses Problem empfinde.
Überall in der Gesellschaft sehen wir das ungebremste Wachstum von Regeln, Vorschriften, Verwaltungen, formaljuristischen Logiken und ausufernden Dokumentationspflichten. Das führt zur Ineffizienz und dazu, dass die Menschen, die die eigentliche Arbeit verrichten, durch die Hypertrophie der kollateralen Strukturen gebremst und behindert werden. Beim Thema Anschuldigungen kann das zu übertriebenen administrativen Reaktionen führen. Es entsteht eine Art Paralleljustiz, in der das Stichwort Machtmissbrauch zu einer Türöffnung wird, die dann von manchen ausgenutzt wird. Wir haben eine Struktur geschaffen, die für Falschanschuldigungen empfänglich ist.
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