Eine Stunde später – und die Visite läuft effizienter

Laut einer Erhebung am CHUV können leichte Verschiebungen der Visiten und Abläufe den Alltag der Assistenzärzte verbessern.

, 15. August 2025 um 11:29
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Morgendliche Visite: ein zentraler Moment interprofessioneller Zusammenarbeit | Bild: CHUV, DR
Jeden Morgen beginnt in den medizinischen Abteilungen der Spitäler ein vertrautes Ritual: Die Assistenzärzte machen ihre Runde, gehen von Zimmer zu Zimmer, untersuchen die Patienten, sprechen mit dem Pflegepersonal und passen Behandlungen an. Die Visite ist ein zentraler Moment für die klinische Betreuung wie für die Ausbildung.
Doch der Ablauf wird oft unterbrochen: Dringende Informationssuchen, administrative Aufgaben oder spontane Anfragen schmälern die Zeit, die tatsächlich am Patientenbett verbracht wird.
Wie liesse sich dieser Alltag optimieren? Mediziner des Hôpital Fribourgeous, des CHUV und der Uni Lausanne haben eine einfache, aber wirkungsvolle Antwort gefunden: ein zusätzlicher Vorbereitungspuffer von nur einer Stunde.
In ihrer Erhebung präsentierte das Team um Antoine Garnier (HFR) erste Ergebnisse von über 1’200 Stunden direkter Beobachtung im Bereich Innere Medizin des Waadtländer Kantonsspitals CHUV.
Das Ergebnis: Ein strategisches Verschieben der Visiten um eine Stunde kann deren Ablauf verbessern – und sogar die Gesamtdauer reduzieren –, ohne dass die Qualität der Betreuung beeinträchtigt wird.
Bereits 2017 hatte das CHUV mehrere organisatorische Reformen eingeführt, darunter die Verschiebung der Morgenvisiten von 9 auf 10 Uhr, um den Ärzten mehr Vorbereitungszeit zu geben. In dieser Stunde können sie elektronische Patientenakten studieren, Untersuchungsergebnisse einsehen, Therapien und Entlassungspläne vorbereiten, Kontakt zu Haus- und Fachärzten aufnehmen und dringende klinische Fälle vor der Visite klären. Die Ziele dabei: weniger Unterbrechungen bei der Visite zu reduzieren, mehr Präsenz am Patientenbett.

Effizienzgewinn ohne Qualitätsverlust

Die Studie verglich zwei Zeiträume: 2015 (vor der Reform) und 2018 (nach deren Umsetzung). In beiden Phasen wurden jeweils 35 bis 40 Assistenzärzte in den acht Einheiten des internen Medizinservices beobachtet.
Die Ergebnisse sprechen für sich:
  • Die durchschnittliche Visitenlänge sank von 142 auf 112 Minuten – 30 Minuten weniger pro Runde.
  • Der Zeit-Anteil direkt bei den Patienten blieb mit 47  Prozent stabil.
  • Die Nutzung von Computern während der Visite fiel von 43  auf 32  Prozent, am Patientenbett halbierte sich die Bildschirmzeit von 16  auf 8  Prozent.
  • Der Anteil der Zeit, die mit Kollegen (Pflegepersonal oder Oberärzten) verbracht wurde, stieg leicht.
Laut den Studienautoren zeigt dies, dass sich Assistenzärzte im neuen System stärker auf klinische Untersuchungen und den persönlichen Austausch konzentrieren konnten.

Mehr Supervision, weniger Administration

Die Reform brachte nicht nur einen quantitativen Gewinn, sondern veränderte auch die qualitative Nutzung der Zeit:
  • Supervision und Ausbildung stiegen von 12  auf 32  Prozent der Visitenzeit.
  • Administrative Tätigkeiten sanken von 54  auf 41  Prozent.
  • Der Zeitaufwand für zusätzliche Nachmittagsvisiten blieb unverändert; die Gesamtzeit pro Tag blieb stabil.
  • Die Visiten begannen häufiger pünktlich.
Die Stunde an zusätzlicher Vorbereitung erlaubte es den Assistenzärzten, Patientenbedürfnisse besser vorherzusehen und die Teamkoordination im Vorfeld zu optimieren. Weniger Zeitverlust durch Informationssuche vor Ort hiess mehr Zeit für Pflege und Ausbildung.

Blick nach vorn

«Wir erleben eine generelle Beschleunigung in der Gesellschaft, verbunden mit zunehmender Digitalisierung, die nicht immer erleichternd wirkt. Deshalb ist es entscheidend, wachsam zu bleiben und alles zu tun, um den Sinn unseres Berufs zu bewahren – oder wiederzufinden», so die Autoren gegenüber Medinside.
Schon kleine Anpassungen im Dienstplan – etwa eine Verschiebung der Visiten um nur eine Stunde – können Effizienz und wahrgenommene Qualität der Visiten deutlich verbessern. Ohne zusätzliche Ressourcen lässt sich so mehr Zeit für Patienten, Ausbildung und Koordination gewinnen.
Die Autoren fassen zusammen: «Unsere Arbeit zeigt, wie unkonventionelles Denken helfen kann, Abläufe zu optimieren – ohne zusätzliche Mittel – und so einen reibungsloseren und für alle Beteiligten vorteilhaften Arbeitsalltag zu schaffen.»
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