Prof. Dr. med. Urs Fischer ist Direktor und Chefarzt der Universitätsklinik für Neurologie am Inselspital Bern. Er studierte Medizin in Bern, London, San Francisco und Lomé und absolvierte einen «Master of Science by Research in Clinical Neurology» in Oxford. Seit 2015 ist er Professor für Akutneurologie und Stroke und Co-Direktor der Clinical Trial Unit an der Universität Bern. 2021 bis 2024 war er Klinikdirektor und Chefarzt für Neurologie am Universitätsspital Basel und Professor für Neurologie an der Universität Basel
Er engagiert sich in nationalen und europäischen Fachgesellschaften, war Generalsekretär der Europäischen Schlaganfallgesellschaft (ESO) und ist seit November 2023 Präsident der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft. Fischer wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Scientific Excellence Award der ESO (2020) und dem Maupertuis-Forschungspreis der Schweizerischen Hirnliga (2024).
Herr Fischer, was bedeuten die Ergebnisse der CATALYST-Studie konkret für den klinischen Alltag in der Schlaganfallversorgung?
Die CATALYST-Metaanalyse zeigt, dass ein frühzeitiger Behandlungsbeginn mit sogenannten DOACs (direkte orale Antikoagulantien) innerhalb von vier Tagen nach einem ischämischen Schlaganfall bei Patient:innen mit Vorhofflimmern sicher und effektiv ist. Ein frühzeitiger Behandlungsbeginn verringert das Risiko eines weiteren Schlaganfalls um 30 % im Vergleich zu einem späteren Behandlungsbeginn.
Die CATALYST-Metaanalyse fasst Daten von vier Studien zusammen: TIMING, ELAN, OPTIMAS und START. Die Ergebnisse zeigen in verschiedenen Subgruppen keinen relevanten Unterschied im Behandlungseffekt, insbesondere bei älteren Patient:innen, die oft Begleiterkrankungen aufweisen. Somit kann auch bei älteren und multimorbiden Patient:innen eine frühzeitige Behandlung gestartet werden, sofern keine relevanten Kontraindikationen für eine Therapie mit DOACs vorliegen.
Wie sicher ist der frühzeitige Einsatz von blutverdünnenden Medikamenten in der Praxis?
Die CATALYST-Metaanalyse basiert auf einem sehr grossen, internationalen Datensatz mit 5’441 Patient:innen aus Ländern in Europa, Nordamerika und Asien mit sehr unterschiedlichen Gesundheitssystemen. Diese Vielfalt ermöglicht eine sehr gute Generalisierbarkeit der Studienergebnisse. Es ist vertretbar, die Studienergebnisse direkt in der klinischen Praxis umzusetzen, da sich das Design der verschiedenen Studien sehr stark an der klinischen Routine orientierte.
Gibt es Einschränkungen?
Zur Vereinheitlichung der Datensätze der vier Studien in der CATALYST Metaanalyse konnten nicht alle Patient:innen der einzelnen Studien berücksichtigt werden. So wurden beispielsweise nur wenige Patient:innen mit sehr schweren Schlaganfällen (z. B. NIHSS > 20) eingeschlossen, sodass unklar bleibt, ob diese ebenfalls von einem frühen Therapiebeginn profitieren. Anhand der aktuellen CATALYST-Metaanalyse kann auch nicht beurteilt werden, ob ein früher Therapiebeginn für Patient:innen mit einer relevanten hämorrhagischen Transformation von Nutzen ist. Dies muss durch weitere Subanalysen abgeklärt werden, welche die Information der Bildgebung berücksichtigen.
«Es ist vertretbar, die Studienergebnisse direkt in der klinischen Praxis umzusetzen.»
Unsere
Subgruppenanalyse der ELAN-Studie zeigt allerdings, dass der potenzielle Nutzen eines frühen Therapiebeginns auch bei Patient:innen mit grossen Hirninfarkten gegeben ist. Ausserdem fanden sich in einer weiteren
Subanalyse der ELAN-Studie keine Sicherheitsbedenken einer Antikoagulation trotz leichter hämorrhagischer Transformation. Bevor aber eine frühe Antikoagulation bei diesen Patient:innen im klinischen Alltag routinemässig empfohlen werden kann, muss dies in einer grösseren Substudie der CATALYST-Metaanalyse untersucht werden.
Welche Rolle spielen bildgebende Verfahren bei der Entscheidung zum DOAC-Zeitpunkt?
Alle vier Studien der CATALYST-Metaanalyse führten bei Spitaleintritt routinemässig eine CT- oder MRT-Bildgebung durch, um eine intrakranielle Blutung oder relevante hämorrhagische Transformation auszuschliessen. Nicht alle Studien verlangten jedoch eine erneute Bildgebung vor Behandlungsbeginn, so dass eine sichere Antikoagulation basierend auf der routinemässigen Bildgebung bei Spitaleintritt in Kombination mit der klinischen Verlaufsbeurteilung möglich ist, ohne dass hochspezialisierte Protokolle erforderlich sind.
In der von uns durchgeführten ELAN-Studie wurde die Infarktgrösse mittels Bildgebung vor Studieneinschluss bestimmt mit dem Ziel, eine Therapie mit einem DOAC noch früher als in den ersten vier Tagen zu starten. In der ELAN-Studie konnten wir zeigen, dass bei Patient:innen mit kleinen und mittelgrossen ischämischen Schlaganfällen ein Behandlungsbeginn sogar innerhalb der ersten 48 Stunden sicher ist.
Wie gross ist aus Ihrer Sicht der Einfluss der CATALYST-Ergebnisse auf künftige Leitlinien – etwa in Europa oder der Schweiz?
Bisher standen Ärzt:innen bei Patient:innen mit akutem ischämischem Schlaganfall und Vorhofflimmern vor einem therapeutischen Dilemma: Ein früher Behandlungsbeginn erhöhte das Blutungsrisiko, ein späterer Start begünstigte Rezidivereignisse. Beide Ereignisse (Hirnblutung und Durchblutungsstörung) beeinflussen das Schicksal der Patient:innen erheblich und können im schlimmsten Fall zu schweren Behinderungen führen oder sogar tödlich verlaufen.
«Bisher standen Ärzt:innen bei Patient:innen mit akutem ischämischem Schlaganfall und Vorhofflimmern vor einem therapeutischen Dilemma.»
Die CATALYST-Metaanalyse zeigt, dass ein früher Behandlungsbeginn sowohl sicher wie auch effektiv ist, was unmittelbare Auswirkungen auf die klinische Praxis hat. Fachgesellschaften wie die Europäische Schlaganfallgesellschaft (ESO) oder die American Heart Association werden nun die Studienergebnisse genau analysieren und Leitlinien und Handlungsempfehlungen erstellen, damit Ärzt:innen in Zukunft den Beginn der Antikoagulation basierend auf Empfehlungen durch Leitlinien durchführen können.
Welche offenen Fragen bleiben, und wo sehen Sie den grössten Forschungsbedarf?
Trotz der robusten Ergebnisse der CATALYST-Metaanalyse bleiben wichtige klinische Fragen offen. Zunächst muss geklärt werden, ob auch Patient:innen mit relevanter hämorrhagischer Transformation oder sehr grossen ischämischen Schlaganfällen von einem frühen Behandlungsbeginn profitieren. Ausserdem möchten wir analysieren, ob wir eine Antikoagulation sogar noch früher starten können und welche Rolle der Faktor Zeit auf das Blutungs- und Rezidivrisiko spielt.
Weitere Projekte werden sich mit der Bildgebung befassen: wir möchten analysieren, ob es Marker gibt, die uns bei der Entscheidungsfindung unterstützen, welche Personen besonders von einem frühen Behandlungsbeginn profitieren und welche Personen ein erhöhtes Blutungsrisiko aufweisen.
Unabhängig von diesen Zusatzstudien bleibt festzuhalten: für Patient:innen mit akutem ischämischem Schlaganfall und Vorhofflimmern ist ein früher Beginn der DOAC-Therapie sicher und wirksam.