Frau Bischoff-Ferrari, die Forschung zur Langlebigkeit boomt weltweit. Was treibt Sie persönlich in diesem Bereich an?
Langlebigkeit ist heute ein zentrales gesellschaftliches Thema, weil unsere Welt sehr schnell älter wird. Seit 2020 haben wir erstmals in der Geschichte mehr Menschen über 65 Jahre als Kinder unter 5 Jahren. Und bis 2050 wird in Europa jeder Dritte über 65 sein. Mich fasziniert an der Forschung zur gesunden Langlebigkeit, dass wir damit die Medizin auf ein neues Level heben können – eine «Medizin Version 2», die direkt am biologischen Alterungsprozess ansetzt.
Wie könnte das unseren Umgang mit altersbedingten Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Demenz verändern?
Es geht darum, das biologische Altern zu verlangsamen – also die Prozesse in den Zellen, die uns anfälliger machen für bestimmte Erkrankungen. Prävention wird damit viel gezielter und wissenschaftlich fundierter möglich. Wenn wir es schaffen, diesen Prozess messbar zu verlangsamen, können Menschen länger gesund und aktiv bleiben – und gleichzeitig helfen wir, die steigenden Gesundheitskosten besser zu kontrollieren.
Das British Medical Journal veröffentlichte kürzlich eine provokante These: Prävention sei ein Problem. Eine internationale Gruppe von Hausärzten und Professoren forderte darin, die Grundversorgung deutlich von präventiven Aufgaben zu entlasten. Was halten Sie davon?
Prävention ist ein zentrales Element für gesunde Langlebigkeit. Allerdings muss sie gezielt, evidenzbasiert und effizient in die Versorgung integriert werden. Die Herausforderung besteht darin, dass unser Gesundheitssystem aktuell vor allem auf die Behandlung von Krankheiten ausgerichtet ist, nicht auf deren Vermeidung. Wir brauchen innovative Ansätze, um Prävention attraktiver und wirksamer zu machen.
Wie hat sich unser wissenschaftliches Verständnis vom Altern in den letzten Jahren gewandelt?
Es gab einen echten Paradigmenwechsel. Altern ist heute nicht mehr nur ein Abbauprozess, sondern hat eine positive, dynamische Vision bekommen: Es geht darum, die gesunde Lebenszeit zu verlängern. Das treibt nicht nur die Medizin, sondern auch Innovationen und unsere Gesellschaft als Ganzes voran.
Heisst das auch, dass wir umdenken müssen, wie wir über das Alter sprechen?
Absolut. Die moderne Altersmedizin wird nicht mehr nur Gebrechlichkeit messen und behandeln – sie übernimmt heute auch Verantwortung, den Alterungsprozess zu verlangsamen und Gebrechlichkeit vorzubeugen. Das erfordert ein neues Bild vom Alter. Interessant: In der Schweiz fühlen sich laut der Digital-Aging-Studie Männer im Alter von 70 bis 80 rund 18 Jahre jünger, Frauen 12 Jahre. Und diese subjektive Wahrnehmung korreliert oft mit dem biologischen Alter.
Also ist das gefühlte Alter mehr als nur ein psychologisches Phänomen?
Ja – es ist eng mit messbaren Gesundheitsfaktoren verknüpft. Wer sich jünger fühlt, bewegt sich oft mehr, ernährt sich bewusster, bleibt sozial aktiv – das alles wirkt sich auch auf das biologische Alter aus.
Inwieweit ist unser heutiges Gesundheitssystem überhaupt darauf ausgelegt, gesunde Langlebigkeit zu fördern?
Noch nicht wirklich. Heute vergüten wir neben wenigen Vorsorge-Untersuchungen nur krankheitsbezogene Leistungen – Gesundheitsförderung hat kaum Platz im Tarifsystem. An unserem Campus möchten wir deshalb mit Krankenversicherern und der Gesundheitspolitik neue Konzepte entwickeln, die gezielt Gesundheitsförderung, besonders bei Menschen mit vorbestehenden chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Herz-Kreislauf Erkrankungen, abbilden. Dafür erheben wir auch gesundheitsökonomische Daten in all unseren Forschungsprojekten.
Eine aktuelle Auswertung des Bundesamtes für Statistik zeigt, dass die Ausgaben für Prävention 2023 um 53,5 Prozent gesunken sind gegenüber dem Vorjahr. Was braucht es, damit Prävention stärker in die Versorgung integriert wird?
Wir brauchen evidenzbasierte Programme, die sowohl in der Wirkung als auch in der Kostenersparnis nachweislich überzeugen. Dann wird Prävention auch wirtschaftlich attraktiv – für die Gesellschaft und das Gesundheitssystem.
Auf welche Widerstände stossen Sie mit Ihrer Forschung zur gesunden Langlebigkeit innerhalb der Ärzteschaft?
Es gibt durchaus Skepsis, vor allem weil die Verlängerung der gesunden Lebenserwartung ein neues Thema in der Medizin ist. Dazu geht es um neue molekulare Messwerte, die den biologischen Alterungsprozess messen und bisher vor allem in der Forschung zum Einsatz kommen. Auch sind viele Ärzte im Praxisalltag stark ausgelastet und eine Leistungsabbildung für Gesundheitsförderung fehlt. Es braucht daher klare wissenschaftliche Evidenz, pragmatische Tools und Anreize, damit Gesundheitsförderung als integraler Bestandteil der Versorgung akzeptiert und umgesetzt wird.
Wie gross ist der Einfluss der Genetik auf unsere Lebensspanne – und wie viel liegt tatsächlich in unserer eigenen Hand?
Das ist die gute Nachricht: Unsere Gene erklären nur 10 bis 30 Prozent der Variabilität unserer Lebenserwartung. Die restlichen 70 bis 90 Prozent sind epigenetische Faktoren wie Umwelt, mentale Gesundheit und vor allem Lebensstilfaktoren wie Bewegung und Ernährung. Und genau diese epigenetischen Faktoren sind veränderbar – hier liegt unser Potenzial.
Epigenetik gilt als Schlüsselbegriff in der Langlebigkeitsforschung. Was bedeutet das konkret für den Alltag?
Es bedeutet: Wir nehmen über unseren Lebensstil, also was wir essen, wie viel wir uns bewegen, unsere sozialen Interaktionen und wie wir mit Stress umgehen – direkt darauf Einfluss, ob genetische Risiken zum Ausbruch kommen oder verstummen. Dazu wissen wir heute, dass gesunde Lebensstilfaktoren unseren biologischen Alterungsprozess verlangsamen. Da unser Alterungsprozess Hauptrisiko-Faktor nahezu aller chronischen Erkrankungen ist, haben Lebensstilfaktoren als epigenetische Hebel einen grossen Einfluss auf unsere gesunde Lebenserwrtung.
Welche Interventionen sind aus wissenschaftlicher Sicht derzeit am wirksamsten, um den Alterungsprozess positiv zu beeinflussen?
Neben einer gesunden Ernährung sind es vor allem Bewegung, soziale Interaktion, ausreichend Schlaf und Stressregulierung über Achtsamkeitsübungen oder Meditation. Bewegung ist zum Beispiel ein wahres Multitalent – sie reduziert Krankheitsrisiken wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes und Demenz, und stärkt viele Funktionen die für uns Menschen zentral sind inklusive Sehen und Hören. Täglich mindestens 30 Minuten Gehen und zweimal pro Woche Übungen zum Kraftaufbau und zur Stärkung des Gleichgewichts reichen aus, um messbare Effekte zu erzielen.
Sie haben federführend an der grössten Altersstudie Europas mitgewirkt. Welche Erkenntnisse sind dabei besonders bedeutsam?
DO-HEALTH ist eine hochqualitative Interventionsstudie, die bei 2157 generell gesunden Menschen im Alter ab 70 Jahren die Wirkung von drei Lebensstilfaktoren (2000 IE Vitamin D /Tag, 1 Gramm Omega-3/Tag, und ein einfaches Trainingsprogramm 3*30 Minuten/Woche) individuell und in Kombination über drei Jahre untersucht hat. Es zeigten sich additive Vorteile mit der stärksten schützenden Wirkung bei den Teilnehmern, die alle drei Massnahmen erhielten.
«Ich bin überzeugt: Wir werden krankhafte Veränderungen viel früher erkennen und so präventiv eingreifen können.»
Hier zeigte sich eine Verminderung von Krebserkrankungen um 61 Prozent und eine Verminderung frühzeitiger Gebrechlichkeit um 39 Prozent. Das motivierte uns zu untersuchen, ob die Massnahmen direkt den biologischen Alterungsprozess beeinflussen. Wir haben daher in Zusammenarbeit mit Steve Horvath, der diese Messmethode entwickelt hat, vier epigentische Uhren zu Beginn und nach drei Jahren untersucht. Es zeigte anhand drei der vier Uhren, dass sich bei Teilnehmern, die Omega-3 einnahmen das biologische Alter im Schnitt drei Monate verjüngte. Anhand einer Uhr war das Ergebnis stärker in Kombination mit Vitamin D und dem Trainingsprogramm.
Warum ist diese Kombination so wirksam?
Aufgrund der unterschiedlichen Wirkungsmechanismen der drei Massnahmen nutzen wir in der Kombination additive Schutzmechanismen. Jede der Massnahmen leistet individuell einen kleinen Beitrag, der sich in Kombination additiv verstärkt. Und das bei Menschen über 70, also einer besonders relevanten Zielgruppe.
Gibt es inzwischen Hinweise darauf, dass sich der Alterungsprozess beim Menschen tatsächlich verlangsamen lässt?
Do-HEALTH ist die bisher grösste Studie, die zeigen konnte, dass sich das biologische Alter nicht nur bei Mäusen, sondern auch bei Menschen verjüngen lässt, und das mit einfachen Lebensstilfaktoren. Die andere grössere Studie ist CALERIE, die 200 nicht übergewichtige und mittelalte Menschen einschloss; sie zeigte dass eine Kalorienreduktion von 25 Prozent über zwei Jahre den biologischen Alterungsprozess bei gesunden Erwachsenen messbar verlangsamte. Kürzlich erschien eine weitere Arbeit in der DO-HEALTH Partnerstudie VITAL in Amerika bei generell gesunden Menschen im Alter 50 und darüber: Die Vitamin D Supplementation in der gleichen Dosierung wie in DO-HEALTH verlangsamte den Alterungsprozess gemessen an der Telomerlänge.
Ab Juli 2025 übernehmen Sie den Lehrstuhl für Geriatrie in Basel und leiten den Aufbau des Schweizer Campus für gesunde Langlebigkeit. Was sind Ihre Ziele mit diesem neuen Zentrum?
Unser Ziel ist es, wissenschaftlich belegte und sichere Konzepte zur Verlangsamung des biologischen Alterns für die Schweizer Bevölkerung nutzbar zu machen. Gleichzeitig wollen wir einen international vernetzten Innovations-Leuchtturm schaffen, der die Medizin von morgen mitgestaltet. Der Campus koordiniert dafür das «Global Health Span Extension Consortium», das führende Altersforscher aus zwölf Universitäten vereint.
Wie bringen Sie die Erkenntnisse konkret zu den Menschen?
Wir arbeiten entlang von vier Aktionspfeilern. Der erste ist der Aufbau einer Campus-Klinik mit umfassender Analyse – von Lebensstil über funktionelle Ressourcen bis hin zu molekularen Markern des Alterns. Dabei arbeiten wir z. B. mit Tony Wyss-Coray von der Stanford University zusammen, der Organ-Uhren entwickelt hat.
«Persönlich versuche ich, gesunde Lebensstilfaktoren auf machbare Weise zu kombinieren: Bewegung als Genuss, Mediterrane Ernährung, viel soziale Interaktion und täglich Neues lernen.»
Der zweite Pfeiler bringt das WHO-Programm ICOPE mit Pro Senectute als Partner in die breite Bevölkerung – Menschen sollen selbstständig sechs wichtige Funktionen wie Mobilität, Kognition oder Ernährung regelmässig überwachen und stärken können. Der dritte Pfeiler fokussiert auf Berufsgruppen, z. B. Pflegefachkräfte, und wie sie länger gesund bleiben können. Und der vierte Pfeiler ist eben unser globales Forschungsnetzwerk mit engen Kollaborationen vor Ort in Basel und mit anderen Universitäten der Schweiz.
Wenn wir 20 oder 50 Jahre in die Zukunft blicken – wie wird sich die Altersmedizin Ihrer Einschätzung nach entwickeln?
Ich bin überzeugt: Wir werden krankhafte Veränderungen viel früher erkennen und so präventiv eingreifen können. Die Medizin wird systemischer denken – also das Zusammenspiel der Organe berücksichtigen – und sehr viel stärker personalisiert sein. Künstliche Intelligenz und digitale Tools werden dabei eine wichtige Rolle spielen.
Und wie gelingt es Ihnen persönlich, gesunde Langlebigkeit in den Alltag zu integrieren?
Ich freue mich sehr, dass ich mit dem Campus an der Universität Basel etwas voranbringen darf, das uns allen zugutekommt. Persönlich versuche ich, gesunde Lebensstilfaktoren auf machbare Weise zu kombinieren: Bewegung als Genuss, Mediterrane Ernährung, viel soziale Interaktion und täglich Neues lernen.
Heike Bischoff-Ferrari ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin mit den Schwerpunkten Geriatrie und Rehabilitation. Zusätzlich verfügt sie über eine Ausbildung in Public Health, die sie mit einem Doktorat an der Harvard School of Public Health abschloss.
Ab Juli 2025 folgt sie dem Ruf an die Universität Basel, wo sie den Lehrstuhl für Geriatrie übernimmt und gleichzeitig die Leitung des Departements für Akute Altersmedizin an der Universitären Altersmedizin Felix Platter innehat. Mit dieser neuen Rolle ist auch der Aufbau des «Schweizer Campus für gesunde Langlebigkeit» verbunden – einem nationalen Innovationsprojekt zur Förderung der gesunden Lebensspanne.
Heike Bischoff-Ferrari steht dem klinischen Konsortium «Healthy Aging» der Weltgesundheitsorganisation WHO vor, leitet die Harvard-Initiative «Minding our Future: Healthy Aging» und koordiniert das 2024 gegründete «Global Health Span Extension Consortium», das führende Alternsforscher aus zwölf Universitäten weltweit vereint.
2025 wurde sie in die «Academy for Health and Lifespan Research» berufen.