Im zweiten Teil erklärt sie, wie Ärztinnen Karriere machen und Teilzeit mit Führung verbinden können – und warum viele trotz hoher Qualifikation das Gefühl haben, «dreimal so hart arbeiten zu müssen».
Frau Schädeli, Viele Ärztinnen berichten, sie müssten sich «dreimal so sehr anstrengen» wie männliche Kollegen. Was läuft hier schief?
Viele Ärztinnen arbeiten tatsächlich enorm viel – aber oft an den falschen Stellen. Sie investieren Energie in Fleissarbeit, Administration oder Lehre, also in Bereiche, die für die Karriere wenig zählen. Wer «dreimal so viel» leistet, wird deshalb nicht automatisch befördert. Entscheidend sind andere Faktoren: Sichtbarkeit in Gremien, Auftritte an Kongressen, Beteiligung an relevanten Projekten. Karriere entsteht nicht nur durch Leistung, sondern durch strategisches Positionieren.
Wo sehen Sie die grössten Hebel, um mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen?
Der wichtigste Hebel ist die Einsicht, dass gleiche Chancen kein Selbstläufer sind. Es braucht den echten Willen, Macht zu teilen – nicht nur schöne Worte über Gleichstellung. Frauen scheitern selten an Kompetenz. Trotzdem werden sie übergangen. Deshalb braucht es verbindliche Massnahmen: klare, transparente Einstellungs- und Beförderungsprozesse und, ja, auch effektive Quoten. Nur so verändert sich etwas.
Viele Ärztinnen reduzieren nach der Familiengründung ihr Pensum. Wie stark ist Teilzeitarbeit tatsächlich ein Karrierehindernis?
Teilzeit ist in der Medizin grundsätzlich möglich – die Frage ist, in welchem Umfang. Wer einfach klinisch arbeiten will, kann gut mit 50 oder 60 Prozent bestehen. Für Führungsfunktionen braucht es aber mehr Präsenz. Meine Erfahrung zeigt: Ab etwa 70 Prozent wird es realistisch. Das erlaubt, an vier Tagen pro Woche im Betrieb sichtbar zu sein – und diese territoriale Präsenz ist entscheidend. Erfolgreiche Co-Leitungen gibt es, aber sie funktionieren meist nur, wenn beide mindestens 80 Prozent arbeiten.
«Der Punkt, an dem Ärztinnen aussteigen, ist oft kein rational geplanter, sondern ein Moment der Erschöpfung.»
Erfolgreiche Modelle liegen meist bei 70 bis 90 Prozent, ob einzeln oder in Co-Leitung. Entscheidend ist, dass das Pensum auch ehrlich gelebt wird. Viele Ärztinnen lassen sich 90 Prozent anstellen, arbeiten aber faktisch 110. Dann haben sie nur 10 Prozent weniger Lohn, aber keine Entlastung. Das ist kein Teilzeitmodell, sondern Selbstausbeutung.
Wann kippt der Moment, an dem Ärztinnen sagen: Ich steige aus oder gehe nicht weiter?
Der Punkt, an dem Ärztinnen aussteigen, ist oft kein rational geplanter, sondern ein Moment der Erschöpfung. Viele halten lange durch – Klinik, Karriere, Kinder, ein Partner, der ebenfalls viel arbeitet – bis nichts mehr geht. Kippen tut es auch, wenn Frauen schlecht behandelt werden: Mobbing, sexuelle Belästigung, Lächerlichmachen oder wenn sie dauerhaft nur die undankbaren Aufgaben übernehmen sollen. Dann sagen viele: «Für das bin ich nicht Ärztin geworden.» Im Unterschied zu anderen Branchen haben sie immerhin die Option, in eine Praxis zu gehen oder sich selbstständig zu machen – und das nutzen sie dann auch.
Sibyl Schädeli ist Karrierecoach und Expertin für Frauenkarrieren in Spitälern, Universitäten und Verwaltungen. Sie hat sich auf Karriere- und Führungsentwicklung im Gesundheitsbereich und auf den Umgang mit betrieblichen Machtspielen spezialisiert.
Vor ihrer Selbständigkeit war die Ethnologin viele Jahre in leitenden Positionen in den Personalabteilungen der Bundesverwaltung und des Universitätsspitals Basel tätig, zuletzt als Verantwortliche für Führungsentwicklung.
Ein weiteres Thema ist die Gehalts- und Beförderungsverhandlung. Viele Frauen scheuen diese Gespräche. Weshalb?
Viele Frauen warten immer noch darauf, entdeckt zu werden – dass jemand ihre Leistung sieht und sie von selbst befördert oder besser bezahlt. Doch das passiert nicht. Wer Karriere machen will, muss seine Ziele anmelden, sagen, was man will, und das wiederholen. Lohnverhandlungen gehören dazu, genauso wie das Gespräch über nächste Schritte. Ich sage oft: Eine Führungsperson, die nicht für ihren eigenen Lohn verhandelt, sollte keine andere führen. Dieses aktive Einfordern müssen Frauen noch viel stärker lernen.
Wie schätzen Sie den Generationenwechsel ein? Sind die jungen Ärztinnen selbstbewusster – oder laufen sie in dieselben Strukturen hinein?
Ich sehe bei den jungen Ärztinnen durchaus mehr Selbstbewusstsein. Sie sind lauter, direkter und trauen sich mehr zu. Gleichzeitig unterschätzen viele die bestehenden Hürden – sie glauben, Gleichstellung sei längst Realität. Das ist sie aber nicht. In den Spitälern entsteht dadurch ein Spannungsfeld: Oben stehen nach wie vor meist männliche Chefs mit traditionellen Erwartungen, unten eine neue Generation, die Grenzen setzt und keine 120-Prozent-Jobs mehr will. Dazwischen stehen die leitenden Ärztinnen, sie tragen die Hauptlast und geraten oft zwischen alle Fronten.
Wenn Sie einer jungen Assistenzärztin drei Ratschläge für den Weg zur Chefärztin geben müssten – welche wären das?
Erstens: Such dir früh Vorbilder sowie Mentorinnen und Mentoren – strategisch, nicht zufällig. Zweitens: Arbeite karriereorientiert. Übernimm die Aufgaben, die Sichtbarkeit und Einfluss schaffen und sei nie die «Assistentin» deiner männlichen Kollegen. Drittens: Entwickle rechtzeitig eine fachliche Nische, die fürs Spital relevant ist. So wirst du mit der Zeit unersetzbar.