Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Artikel das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.
Ärzte bilden ein zentrales Element eines jeden modernen Gesundheitssystems. Sie stellen Diagnosen, planen und überwachen die Behandlung, führen Eingriffe durch, betreuen Patienten und Angehörige. Darüber hinaus bilden sie aus, forschen und erledigen zahlreiche administrative Aufgaben. Aus diesen Gründen ist es unerlässlich, dass ein Gesundheitssystem über einen adäquaten Bestand an Ärzten in den entsprechenden Fachrichtungen verfügt.
Die demographische Entwicklung wird den Ärztemangel noch weiter verstärken, da ältere Menschen mehr medizinische Leistungen beanspruchen. Zudem sind bei manchen jungen Ärzten sich verändernde Ansprüche an ihre Arbeitsbedingungen zu beobachten, insbesondere den Wunsch nach mehr Freizeit und somit der Möglichkeit, Teilzeit arbeiten zu können. Wir steuern nur schon von den sich veränderten Lebensentwürfen her, auf eine Situation zu, in der ein pensionierter Arzt von zwei Jungärzten ersetzt werden muss.
Betroffene Fachrichtungen
Um eine angemessene ärztliche Versorgung sicherstellen zu können, muss als Grundlage definiert werden, wie hoch die Ärztedichte (Ärzte pro Einwohner) in den einzelnen Fachdisziplinen sein soll. Doch wie wird der Bedarf an Ärzten in einem Fachgebiet festgelegt?
Um diese Werte zu bestimmen, gibt es verschiedene Ansätze. Eine generell anerkannte Methode existiert jedoch nicht und je nach Interessensgruppe unterscheiden sich die Vorgehensweisen und Resultate beträchtlich. Patienten, die auf eine Konsultation oder Behandlung warten, haben eine ganz andere Perspektive als Kostenträger, die die Vergütung der ärztlichen Leistungen regeln. Eine gewisse Einigkeit herrscht hingegen bei den Bereichen mit dem grössten Mangel in der Schweiz: Pädiatrie, Psychiatrie und Allgemeinmedizin (insbesondere Hausärzte).
In der Schweiz ermitteln Kantone den Versorgungsgrad und legen teilweise Obergrenzen fest. Diese orientieren sich jedoch meistens an bisherigen Werten und gehen oftmals davon aus, dass die Versorgung bislang adäquat war. Die Erreichung von Mindestzahlen an Ärzten wird hingegen weitgehend dem Markt überlassen. Es findet keine aktive Steuerung statt. In Zeiten eines Überangebots an Ärzten, kann dieser Ansatz funktionieren. Jetzt und auch in den kommenden Jahren könnte die unsichtbare Hand des Marktes damit überfordert sein.
MHC-Benchmarking
Im Rahmen eines Mandates erstellte Muller Healthcare Consulting ein internationales Benchmarking. Das Benchmarking basiert auf einer Gegenüberstellung von mehreren Ländern mit vergleichbarem Wohlstand und ähnlichen Gesundheitssystemen. Die Datenstrukturen wurden zuerst homogenisiert, d.h. eine Vergleichbarkeit zwischen den Systemen und ihren medizinischen Ressourcen wurde geschaffen.
Abb. 1: Praktizierende Humanmediziner (ohne Zahnärzte) pro 100'000 Einwohner (2021) (* nur in Spitälern tätige Ärzte) [1] [2]
Die Schweiz zählte Ende 2021 laut FMH 39'222 praktizierende Humanmediziner (ohne Zahnärzte). Auf 100'000 Einwohner sind dies 449 Ärzte. Deutschland weist die gleiche Ärztedichte auf. In Österreich praktizieren 535 Ärzte pro 100'000 Einwohner. Viele europäische Staaten, wie z.B. Frankreich, Belgien und die Niederlande bewegen sich zwischen Werten von 300 und 400. Und in den USA als teuerster Gesundheitsmarkt der Welt, versorgen 800’000 Mediziner 331 mio. Bewohner. Die Ärztedichte pro Land ist in Abb.1 ersichtlich.
Abb. 2: Praktizierende Fachärzte pro 100'000 Einwohner (*Frauen bei Gynäkologen, **Kinder und Jugendliche bis 15 bei Kinderärzten) (2021) [2] [3] [4] [5] [6] [7]
In den einzelnen Fachgebieten sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern noch ausgeprägter. Eine tabellarische Darstellung ist in Abb.2 aufgeführt. Die Gründe dafür sind zahlreich. Sie reichen von der Übernahme einzelner Tätigkeiten in spezifischen ärztlichen Fachgebieten durch Allgemeinmediziner oder auf Pflegepersonal über verschieden stark verbreiteten Therapieformen bis hin zu Unterschieden in den Tarifen. Als Beispiel seien hier die Gynäkologen und Geburtshelfer aufgeführt. Bei der Mehrzahl der gynäkologischen Konsultationen handelt es sich um Routineuntersuchungen mit der Entnahme eines Abstrichs. Diese werden in Deutschland von der Krankenversicherung jährlich übernommen und so kommen dort 43 Gynäkologen auf 100'000 Frauen. In der Schweiz beträgt die Gynäkologendichte 45. Die Grundversicherung vergütet hierzulande den Untersuch alle drei Jahre und ambulante Zusatzversicherungen, über die die Mehrheit der versicherten Frauen verfügt, in den Zwischenjahren. In Luxemburg übernimmt die Krankenversicherung die Untersuchung alle drei Jahre und dort beträgt die Frauenärztedichte lediglich 33.
Bei diesen internationalen Vergleichen fielen noch weitere bemerkenswerte Erkenntnisse auf: z.B. ist innerhalb der entwickelten Länder die Korrelation zwischen Ärztedichte in den einzelnen Fachgebieten und der Qualität der medizinischen Versorgung für spezifische Diagnosen oftmals erstaunlich gering. Zudem kann ein Mangel an Fachärzten in bestimmten Bereichen zu erhöhten Kosten führen, da z.B. wesentliche koordinative und diagnostische Kapazitäten fehlen.
Ein solches Benchmarking kann immer nur als eine von mehreren Grundlagen für Diskussionen und Entscheidungen dienen, da einerseits die Datenstrukturen nicht gleich sind, andererseits die Gesundheitssysteme immer auch Unterschiede aufweisen. So hat beispielsweise das Pflegepersonal in einigen Ländern weitaus mehr Befugnisse als in anderen und übernimmt somit einen Teil der Tätigkeiten, die anderenorts den Ärzten vorbehalten sind. Zudem sind die Abgrenzungen der einzelnen fachärztlichen Disziplinen von Land zu Land unterschiedlich. Des Weiteren durchlebt die Medizin einen konstanten Wandel: Technologische Entwicklungen führen oftmals zu effizienteren und kürzeren Behandlungsformen, die weniger ärztliche Ressourcen erfordern und den Ärztebedarf ständigen Schwankungen unterwerfen.
Massnahmen
Die zu spezifizierenden Massnahmen sind zu unterteilen in nachfrage- oder angebotsorientierte Ansätze.
Abb. 3: Einflussfaktoren auf Angebot und Nachfrage von Ärzten
Die Nachfrage nach Ärzten kann grundsätzlich beeinflusst werden durch eine Verbesserung bspw. durch Digitalisierung von Prozessen, um den administrativen Aufwand für die Ärzteschaft zu reduzieren. Ebenfalls werden sehr spezifische Erweiterungen der Kompetenzen des Pflegepersonals diskutiert. Lotsensysteme wie Telmed Versicherungsmodelle sind geeignet, unnötige Konsultationen zu vermeiden. Und schliesslich können gezielte präventive Ansätze langfristig den Druck auf das Gesundheitswesen reduzieren. Hier ist eine Quantifizierung jedoch schwierig.
Zur Ausweitung des Angebots an ärztlichen Kapazitäten stehen Massnahmen im Raum, die die Zuwanderung von ausländischen Ärzten erhöhen sollen. Die Mitglieder der WHO sind jedoch übereingekommen, bei der Förderung der Zuwanderung von ausländischen Ärzten in ihre jeweiligen Staaten die nachteiligen Auswirkungen auf die Ursprungsländer zu berücksichtigen. Das Angebot an Ärzten kann auch durch die Bereitstellung zusätzlicher Studienplätze erhöht werden. Die Zulassungsbeschränkung ist entsprechend anzupassen. Hier, wie auch bei vielen anderen Massnahmen, ist die Dauer vom Entschied bis eine Wirkung in Form von mehr Fachärzten erzielt wird, zu berücksichtigen. Braucht es doch u.a. den entsprechenden Lehrkörper, Kapazitäten in den Spitälern für die Betreuung der Assistenzärzte, Infrastruktur und die Sicherstellung der Finanzierung der Ausbildung. Letztlich kann durch eine Anpassung der Tarife auch eine gewisse Steuerung von neuen Fachärzten in spezifische Richtungen erfolgen. Die Verdienstmöglichkeiten in den Fachrichtungen mit dem grössten wahrgenommenen Mangel fallen gegenüber manch anderen Spezialisierungen klar ab.
Fazit
Welche dieser Massnahmen weiterverfolgt und wie sie gewichtet werden, ist insbesondere ein politischer und von Interessensvertretern geprägter Entscheid. Wesentlich ist, dass eine offene Diskussion unter Beteiligung aller Anspruchsgruppen geführt und dass die Zukunft des Gesundheitswesens nicht dem Zufall oder ideologisch motivierten Fehleinschätzungen überlassen wird.
Als wesentlicher Lösungsansatz wird eine offene, regelmässig stattfindende Diskussion unter verschiedenen Anspruchsgruppen gesehen, z.B. in Form eines Runden Tisches. Hier könnte das Projekt "Gesondheetsdësch" von Luxemburg als Inspiration und Pionier gelten.
Muller Healthcare Consulting hat sich einen Namen gemacht als Organisator und Moderator von Diskussionsforen über Organisationsgrenzen hinweg. Gerne stehen wir interessierten Parteien für einen Austausch bereit. Rufen Sie uns an!
Quellen:
[1] Eurostat
[2] OECD
[3] IGSS
[4] FMH,
[5] AAMC
[6] Bundesärztekammer
[7] health.belgium.be
Über Muller Healthcare Consulting
Die Beratungsgesellschaft Muller Healthcare Consulting GmbH wurde 2014 von François Muller gegründet. Das Unternehmen mit Büros in der Schweiz und in Luxemburg bietet Institutionen des Gesundheitswesens Beratungsdienstleistungen an. Muller Healthcare Consulting verfügt über eine Expertise in der Optimierung klinischer und nicht-klinischer Prozesse, in der Entwicklung von innovativen Geschäftsmodellen sowie in gesundheitsökonomischen Fragestellungen. Muller Healthcare Consulting unterstützt Spitäler, Psychiatrien, Pflegeheime und andere Leistungserbringer im Gesundheitswesen, aber auch Regierungen, Versicherer und weitere Anspruchsgruppen in Strategie-, Prozess- und Organisationsfragen.