«Hausarzt ist kein Beruf, den man subventionieren muss»

Ein Arzt macht vor, wie eine Berggemeinde zu medizinischer Versorgung kommt. Und er kritisiert Kollegen, die einfach ihre Praxis schliessen.

, 13. Dezember 2023 um 07:23
letzte Aktualisierung: 28. März 2025 um 08:47
image
Ungewöhnliche Werbung an der Langlaufloipe: Wer gerne Sport treibt, soll doch bleiben - weil sich im Goms schnell zwischen Langlaufdress und weissem Kittel hin- und herwechseln lässt. | zvg
Immer mehr Gemeinden suchen verzweifelt einen Hausarzt oder eine Hausärztin. In Boltigen im Berner Oberland ist man jüngst sogar einem mutmasslichen Betrüger auf den Leim gekrochen.
Der Hausarzt Adrian Wirthner kennt die Probleme, ist aber überzeugt: Auch auf dem Land lassen sich motivierte junge Ärztinnen und Ärzte finden.
Wie? Wirthner macht zum Beispiel nicht nur Ärztinnen, sondern auch Medizinische Praxisassistentinnen zu Mitbesitzerinnen einer Praxis. Und im Goms VS wirbt er mit Langlauf um Personal.
Ausserdem findet er, Hausärzte müsse man nicht subventionieren. Dies, obwohl er derzeit guten Grund hätte, um Geld zu bitten.
Herr Wirthner, Sie haben soeben für die beiden Walliser Gemeinden Goms und Obergoms eine Gruppenpraxis gegründet – es ist Ihre zehnte.
Ja, die beiden Gemeinden planen seit vielen Jahren ein Gesundheitszentrum mit einer Gruppenpraxis, Spitex und Physiotherapie, dazu noch 13 barrierefreie Alterswohnungen. Bei uns im Goms ziehen nämlich viele Leute im Alter weg, weil sie ein bisschen Unterstützung brauchen bei kleinen Dingen, wie etwa beim Schneeschaufeln. Und ja, die Gemeinden haben mich gefragt, ob ich einen Teil des Zentrums organisiere.
Das tönt einfach.
Ist es aber nicht. Das braucht Zeit, Geld und Lust, das zu machen. Eine gewisse Notlage hilft häufig auch. Ich habe im Kanton Bern in den letzten Jahren beim Aufbau von neun Gruppenpraxen – in der Stadt und auf dem Land – mithelfen dürfen. Dabei habe ich sehr viel gelernt.
Was?
Zum Beispiel, dass Ärztinnen und Ärzte zwar häufig zuerst interessiert sind, dann aber doch nicht kommen. Deshalb arbeite ich mittlerweile mit Checklisten und schaue, dass vom ersten Kontakt an alles stimmt.
In Münster gibt es derzeit noch zwei Hausärzte. Doch beide haben das Pensionsalter längst erreicht. Wird die Gruppenpraxis rechtzeitig fertig?
Wir haben eine Idee, wie wir die Zeit bis zur Eröffnung überbrücken können. Ich habe die Gommer Praxis AG gegründet. Sie stellt junge Ärzte und Ärztinnen an, die dann tageweise in den Praxen der beiden Hausärzte arbeiten und diese entlasten oder im Notfall sogar ersetzen könnten. So gibt es keinen Unterbruch in der medizinischen Betreuung.
«Bei uns haben auch viele MPA Aktien, sie sind also Mitbesitzerinnen.»
Ist die Aktiengesellschaft Ihr Erfolgsmodell?
Ja, denn damit sind wir sehr flexibel. Die Ärzte und Ärztinnen können auch an einem anderen Ort arbeiten, so lange das Gesundheitszentrum noch nicht fertig ist. Wenn sie finden, das sei jetzt ein gutes ‹Buudeli›, können sie zudem Aktien kaufen. Und wenn sie weiterziehen, können sie diese Aktien wieder verkaufen.
Dazu brauchen sie aber Geld.
Nicht viel, sie können auch einen kleinen Anteil von sagen wir 1000 Franken kaufen. Bei unserer Gruppenpraxis in Bern haben auch sehr viele Medizinischen Praxisassistentinnen (MPA) Aktien, sie sind also Mitbesitzerinnen. Das ist gut fürs Team und hilft, neue MPA zu gewinnen. Sie können mitentscheiden, das ist wahnsinnig motivierend.
Lassen sich Ihre Erfahrungen mit Gruppenpraxen in der Region Bern auf Walliser Berggemeinden übertragen?
Es gibt hier wegen des Tourismus starke saisonale Schwankungen. Und wir haben im Wallis einen noch tieferen Taxpunktwert als in Bern – 82 Rappen. Das macht es etwas schwieriger, im Goms zu geschäften. Aber wir dürfen zum Glück selber Medikamente abgeben, weil es im Umkreis von zehn Kilometern keine Apotheke hat. Das ist ein Zusatzverdienst, der für die starken Schwankungen entschädigt.
«Am Morgen Sprechstunde machen und am Nachmittag langlaufen: Das ist schon sehr hohe Lebensqualität.»
Wie wollen Sie die Angestellten ins abgelegene Goms locken?
(Lacht) Das Goms ist gar nicht abgelegen. Der Bekanntheitsgrad hat in den letzten Jahren wahnsinnig zugenommen. Bei Langläufern, Skitourengängern und Bikern ist es sehr beliebt geworden. Ich gehe davon aus, dass sehr viele junge Ärztinnen und Ärzte ziemlich sportlich sind. Wenn sie hier Teilzeit arbeiten können – am Morgen Sprechstunde machen und am Nachmittag langlaufen oder am Morgen wandern gehen und am Nachmittag arbeiten –, dann ist das schon sehr hohe Lebensqualität. Wir haben ausserdem gute Schulen und Kitas. Für eine Familie kann es äusserst attraktiv sein, hier zu wohnen.
Wie viel Subventionen erhalten Sie von der Gemeinde für die Gruppenpraxis?
Die Gemeinde subventioniert uns nicht. Sie sorgt aber für den Rohbau des Gesundheitszentrums, wo wir uns dann einmieten. Den Praxisausbau zahlen wir selber. Und das ist auch absolut finanzierbar. Hausarzt ist kein Beruf, den man subventionieren muss. Wenn die Organisation stimmt, dann kann man gut davon leben.
Warum finden dann viele Gemeinden keinen Hausarzt mehr?
Weil leider viele Hausärzte, die jetzt in Pension gehen, fast nichts dafür investieren, dass sie ihre Praxen übergabefähig machen. Die meisten warten ab, behalten ihre alten Einrichtungen und engagieren sich nicht für den Nachwuchs. Dann inserieren sie die Praxis, und wenn sich niemand meldet, hängen sie den Zettel an die Türe: Praxis geschlossen.
«Wenn man jahrzehntelang als Arzt gearbeitet hat, ist man auch ein wenig verantwortlich dafür, eine Nachfolge zu finden.»
Ist das nicht einfach Schicksal, weil sich die Bedingungen geändert haben?
Nein. Die Ärzte aus der Babyboomer-Generation, die jetzt pensioniert werden, haben viel investiert und gearbeitet, aber auch viel verdient. Sie müssten nun halt Geld in die Hand nehmen und versuchen, junge Ärzte zu gewinnen, die dann die Praxis übernehmen. Wenn man jahrzehntelang als Arzt gearbeitet hat, ist man auch ein wenig verantwortlich dafür, eine Nachfolge zu finden.
Mit genug Geld liesse es sich richten?
Nicht nur mit Geld. Es ist zum Beispiel wichtig, eine anständige Homepage zu haben. Sehen Sie, wenn ich die Jungen frage, die bei uns arbeiten, wie sie auf unsere Praxis aufmerksam geworden sind, sagen sie: Ich habe in der Region geschaut, was es für Praxen gibt und bin dann auf die Homepage gegangen. Die hat mir gefallen und dann habe ich telefoniert.

Ein echter Gommer

Adrian Wirthner (63) stammt aus Münster und ist seit 1991 Hausarzt. Die ersten vier Jahre praktizierte Wirthner in seinem Heimatdorf, wo bereits sein Vater jahrzehntelang eine Praxis führte. Seit 28 Jahren wohnt und arbeitet Wirthner in Bern. Er führte früher die Berner Gruppenpraxis Bubenberg und arbeitet dort nun Teilzeit. Wirthner leitete während 25 Jahren auch Medix-Bern, den Zusammenschluss von rund 90 Praxen mit 200 Hausärzten im Kanton Bern.
image


  • praxis
  • Grundversorgung
  • ärztemangel
Artikel teilen

Loading

Kommentar

Mehr zum Thema

image

«Immer noch zu wenig Ärzte», findet die FMH

Innert Jahresfrist stieg die Zahl der Ärzte um 1500. Das sei «viel zu gering», kommentiert die Ärztevereinigung.

image

Dieser Arzt lebt seit 25 Jahren ohne Stuhl

Stühle seien gesundheitsschädlich, findet der Arzt Martin Oswald (73). Er meidet sie – um gegen Thrombosen, Verstopfung und Krampfadern vorbeugen.

image

«Physioswiss weiss, dass die grosse Mehrheit der Praxen einwandfrei abrechnet»

Trick 7311: Der «K-Tipp» wirft Physiotherapie-Praxen vor, einen zu hohen Tarif abzurechnen. Physioswiss erklärt, was rechtens ist.

image

Bern: Physiotherapie gehört in die integrierte Versorgung

Das Berner Kantonsparlament spricht sich klar für eine Stärkung der Physiotherapie aus: Sie soll in die Notfallstationen integriert werden – und mehr Kompetenzen bekommen. Der Regierungsrat muss dies nun angehen.

image

So will ein Landwirt die Tarifpartner entmachten

Die Hausärzte und Hausärztinnen sollen per Gesetzesänderung besser gestellt werden, verlangt eine Motion: Die Tarifpartner seien dazu nicht in der Lage.

image

Innovative Kinderradiologie am Kantonsspital Baden

Das Kantonsspital Baden setzt in seinem Neubau neue Massstäbe in der patientenfreundlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Die Kinderradiologie bietet ein breites Spektrum an diagnostischen und therapeutischen Leistungen und arbeitet eng mit anderen Fachbereichen zusammen.

Vom gleichen Autor

image

«Das Inselspital ist noch lange nicht über den Berg»

Das Inselspital wartete mit guten Meldungen auf. Doch der Insel-Kritiker Heinz Locher gibt keine Entwarnung.

image

Im Schaufenster stehen vor allem unwirksame Medikamente

Bieler Ärzte schlagen eine neue Etikette für rezeptfreie Arzneimittel vor. Sie soll zeigen, wie verlässlich die Wirksamkeit nachgewiesen worden ist.

image

Medikamente: Diese fünf Irrtümer müssen alle kennen

Epinephrin statt Ephedrin? Solche Verwechslungen können tödliche Folgen haben. Gut zu wissen, wo die grössten Gefahren lauern.