Was wäre, wenn sich 94 schwere Krankheiten vor der Geburt voraussagen liessen?

«Carrier Screening»: Das wird wohl zur nächsten ethischen Grossdebatte am Horizont der Medizin. Ab wann sollen die Eltern ihr Risiko testen, eine chronische Krankheit weiterzugeben?

, 19. August 2016 um 13:22
image
  • ethik
  • forschung
  • trends
  • genetik
Der Beitrag, soeben im «Journal of the American Medical Association» erschienen, zeigt eigentlich nur gewisse Möglichkeiten heutiger Gentechnologie auf: Er listet auf, welche Möglichkeiten des «Carrier-Screening» derzeit zur Verfügung stehen, also von Tests, um genetische Abnormalitäten zu erkennen, welche wiederum vererbbare Krankheiten nach sich ziehen (können).
Es geht also darum, rezessive Allele beziehungsweise Genvarianten zu erkennen, die bei einem oder beiden Elternteilen vorhanden sind und die Gefahr bergen, dass das Kind eine schwere Krankheit daraus entwickeln wird.

Prätest des Pränatal-Tests

Die Publikation, erarbeitet von Genforschern des DNA-Testlabors Counsyl und der Columbia University in New York, stellt also fest, dass es derzeit möglich ist, bei bis zu 94 zusätzlichen Erkrankungen das Risiko der Eltern zu erkennen beziehungsweise eine heikle Genvariation festzustellen. Wichtig ist dabei das Wörtchen zusätzlich: Bekanntlich kann (und wird) das Carrier-Screening vereinzelt schon mit einer gewissen Regelmässigkeit eingesetzt, beispielsweise um die die Tendenz zu Mukoviszidose zu erkennen. 

Imran S. Haque, Gabriel A. Lazarin, H. Peter Kang et al.: «Modeled Fetal Risk of Genetic Diseases Identified by Expanded Carrier Screening», in: JAMA, August 2016.

Was sich hier aber vor allem zeigt, ist weitere Verlagerung nach vorne in grossem Stil. Erst gab es Pränatal-Tests, bei der fetale Zellen verwendet wurden. Dann wird es in immer mehr Fällen möglich, Genmutationen im mütterlichen Blut zu erkennen (in Deutschland rollt jetzt gerade die Debatte an, ob der Praena-Test zur Bestimmung von fetalen Trisomien krankenkassenpflichtig werden soll). Und hier erscheint der Prae-Test des Praenatal-Tests: Eltern lassen sich auf ihr Risiko testen – und das bei Dutzenden dereinst möglichen Befunden.
Der Beitrag im JAMA zeigt hauptsächlich auf, wie häufig die erfassbaren 94 Mutationen in den einzelnen Bevölkerungsgruppen der USA verbreitet sind; Grundlage dafür waren die Daten von knapp 350'000 Personen. Danach sind beispielsweise in der hispanischen Bevölkerung 95 von 100'000 Föten von einer schweren vererbbaren Krankheit bedroht, während die Zahl bei nordeuropäischen Paaren gut 55 erreicht.

«DNA Screening for the important moments in life»

Bemerkenswert ist dabei einerseits, dass hier Vertreter einer auf solche Tests spezialisierten Firma im «Journal of the American Medical Society» die erweiterte Anwendbarkeit beschreiben: «DNA Screening for the important moments in life», so der Slogan von Counsyl. Wobei die Autoren dann in der Conclusion festhalten, dass eine Ausweitung von Carrier Screenings im Vergleich zu den derzeit gültigen Standards helfen könnte, «potentially serious genetic conditions» zu erkennen.
Und dass es gerechtfertigt sein könnte, bei gewissen Bevölkerungsgruppen solch eine Ausweitung vorzunehmen.
In den USA ist es immer noch so, dass die Ärztegesellschaften solche Tests bloss befürworten, wenn es um sehr schwere chronische Krankheiten geht; wenn klare Positivaussagen durch Trägerscreenings möglich sind (also wirklich eine grosse Gefahr besteht, dass die fatale Variation vererbt sind); und wenn drittens ein unkomplizierter und zugleich akkurater Test zur Verfügung steht.

Es gibt genügend andere Risiken zu beachten

Und so mahnt auch das Editorial der aktuellen JAMA zu Vorsicht. Der Genforscher Wayne W. Grody von der UCLA nimmt gleich einleitend die Gegenposition ein und warnt vor einer Ausweitung der Eltern-Tests. «Paare in Erwartung müssen viele andere Punkte beachten (ob zur Genetik, zur Geburtshilfe oder psychosoziale Fragen), die substanziell wichtiger sind und mehr Risiken in sich tragen.»
Klar wird also: Erweiterte Carrier Screenings haben problematische gesellschaftliche Implikationen und stellen heikle Fragen in den Raum – etwa wie die zu testenden Krankheiten auszuwählen sind. Die Kernfrage der nächsten Jahre dürfte debei lauten: Ist die Verbreitung solcher Screenings unvermeidbar?

  • Bild: SomeDriftwood, Flickr CC

Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Lässt sich der Blutzuckerspiegel bald mit einer Smartwach messen?

Schweizer Forschende haben eine Methode entwickelt, bei der sich mittels maschinellen Lernens und Smartwatch-Daten Unterzuckerungen erkennen lassen.

image

Neue Studie zeigt: Wir leben länger und auch länger gesund

Schweizerinnen und Schweizer haben gesunde Lebensjahre dazugewonnen – Männer etwas mehr als Frauen. Das zeig eine Studie in «Swiss Medical Weekly».

image

Biomedical Engineering: Universität Basel und FHNW bündeln ihre Kräfte

Beide Institutionen bieten seit 2018 je einen Master in Biomedical Engineering an – eine Disziplin, die rasch wächst. Mit einem Schulterschluss sollen das Studium an Substanz gewinnen.

image

Diese fünf Behandlungen in der Physiotherapie sind unnötig

Massagen, Ultraschall oder Infrarot-Wärme: Solche Behandlungen allein gelten heute als unnütz und stehen deshalb nun auf einer Liste.

image

Woran orthopädische Chirurgen leiden

Probleme an Händen, Hörschaden oder Krebs. Die Bandbreite der berufsbedingten Beschwerden bei Orthopäden ist gross, wie eine Umfrage aus den USA zeigt.

image

Abwasser-Monitoring soll Antibiotika-Resistenzen überwachen

Bald könnte das Abwasser nebst Sars-Cov-2 auch auf andere Krankheitserreger ausgeweitet werden. Doch nicht alle halten diese Idee für sinnvoll.

Vom gleichen Autor

image

Brust-Zentrum Zürich geht an belgische Investment-Holding

Kennen Sie Affidea? Der Healthcare-Konzern expandiert rasant. Jetzt auch in der Deutschschweiz. Mit 320 Zentren in 15 Ländern beschäftigt er über 7000 Ärzte.

image

Wer will bei den Helios-Kliniken einsteigen?

Der deutsche Healthcare-Konzern Fresenius sucht offenbar Interessenten für den Privatspital-Riesen Helios.

image

Deutschland: Investment-Firmen schlucken hunderte Arztpraxen

Medizin wird zur Spielwiese für internationale Fonds-Gesellschaften. Ärzte fürchten, dass sie zu Zulieferern degradiert werden.