Stromstösse ins Gehirn erleben in der Psychiatrie neuen Aufwind

Psychiatrische Kliniken behandeln Patienten wieder vermehrt mit Stromstössen. Die Therapie wirkt offenbar, ist aber trotzdem umstritten.

, 15. Mai 2019 um 13:21
image
  • psychiatrie
  • ärzte
  • therapien
Ein betroffener Patient schwärmt im Interview mit einem deutschen Fernsehsender von der Therapie: «Ich hatte vorher keine Lust mehr, irgendetwas zu machen. Alle Tabletten, Therapien, Klinikaufenthalte haben nichts mehr genützt.»
Dann unterzog sich der von schweren Depressionen geplagte Patient einer so genannten Elektrokrampftherapie (EKT). Bei dieser Therapie wird den Patienten unter Vollnarkose ein Stromstoss direkt ins Hirn geleitet und löst dort einen Krampf aus. 68 solche Behandlungen hat der Patient bereits hinter sich. Alle paar Monate geht er wieder in die Klinik zur Auffrischung der Therapie.

Eine Therapie aus dem Horrorkabinett?

Mit Stromstössen gegen Depressionen: Das klingt für viele immer noch wie aus dem Horrorkabinett der Psychiatrie. Doch immer mehr Psychiatrische Kliniken nehmen die EKT wieder in ihr Behandlungsangebot auf. Die psychiatrischen Dienste Aargau behandeln laut der Zeitschrift «Saldo» rund 50 Patienten pro Jahr. Die psychiatrische Uniklinik Zürich 200.
Spitzenreiterin sind die Universitären Psychiatrischen Dienst Bern (UPD). Im Gegensatz zu anderen Kliniken hat man bei den UPD die Therapie seit deren Anfängen vor rund 90 Jahren nie ganz eingestellt und wendet sie seit dem Jahr 2000 auch wieder deutlich häufiger an.

Kein Schock, sondern ein Krampf

«Wir führen EKT bei schweren katatonen Syndromen und bei therapieresistenter Depression durch», sagt Sebastian Walther, stellvertretender Direktor und Chefarzt der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der UPD, gegenüber Medinside.
Der Arzt mag nicht von Elektroschock sprechen, sondern sagt Elektrokrampf. Die Bezeichnung Schock sei ist irreführend und gefährlich, weil sich Patienten und deren Angehörige deswegen vor der Behandlung fürchten könnten, findet er.

Nur noch mit Narkose und Muskelentspannung

In der Tat haben nicht nur Laien, sondern auch Fachleute noch immer die Bilder des Films «Einer flog über das Kuckucksnest» im Kopf. Dabei werde vergessen, so betonen die Anwender der Therapie, dass der heutige Einsatz von EKT immer unter Narkose und mit Medikamenten zur Muskelentspannung erfolge.
Schon ganz früh in der Medizingeschichte stellten die Ärzte fest, dass bei psychischen Erkrankungen nach spontanen epileptischen Anfällen Besserungen eintrafen. Seit den 1930er Jahren konnte auch nachgewiesen werden, dass die Krampfanfälle mit einer erhöhten Ausschüttung von Neurotransmittern und Neurohormonen zusammenhingen.

Einst zur «Behandlung» von Schwulen eingesetzt

In Verruf kam die EKT vor allem wegen Zwangsbehandlungen. Elektroschocks gehörten vor einigen Jahrzehnten auch zu den Verfahren, mit denen abweichendes Sexualverhalten, vor allem Homosexualität, korrigiert werden sollte.
Doch auch heute hat die Therapie ihre Kritiker: Die Therapie wirke nur kurz, die Methode sei zu aufwendig und habe unerwünschte Nebenwirkungen. Dazu gehört insbesondere Vergesslichkeit.

Höchstens bei schweren Depressionen geeignet

Wie die EKT genau wirkt, ist nicht bewiesen. Indem das Gehirn gegen den Krampfanfall arbeitet, können sich Depressionen offenbar bessern. Es wachsen neue Nervenzellen und es werden mehr stimmungsaufhellende Botenstoffe freigesetzt.
Schwere Depressionen sind schwierig zu behandeln. Antidepressiva und Psychotherapien nützen oft wenig. Trotzdem würden auch bei sehr schweren Depressionen nicht alle Psychiater EKT einsetzen. Langfristig seien Antidepressiva kombiniert mit einer Psychotherapie und Sport erfolgreicher, sind die Gegner der EKT überzeugt. Allerdings haben auch Antidepressiva oft Nebenwirkungen oder nicht den erwünschten Nutzen.
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

EPD: Verschnaufpause für Ärztinnen und Ärzte

Die Anschlusspflicht für Ärztinnen und Ärzte ans EPD soll erst mit der grossen Revision eingeführt werden.

image

USA: Milliardärin befreit Medizinstudenten von Studiengebühren

Am Albert Einstein College of Medicine in New York lernen die Medizinstudenten ab sofort gratis. Dank einer Milliardenspende.

image

Der IV fehlen die Ärzte – weil niemand dort arbeiten will

Schlechtes Image, andere Kultur: Deshalb hat die IV so grosse Mühe, genug Ärzte und Ärztinnen für die IV-Abklärungen zu finden.

image

Weltweit eines der ersten High-End-Dual-Source-CT-Systeme im Ensemble Hospitalier de la Côte in Morges

Welche Vorteile daraus für die regionale Bevölkerung entstehen, lesen Sie im nachfolgenden Interview mit Dr. Mikael de Rham, CEO vom Ensemble Hospitalier de la Côte (EHC).

image

Schönheitsoperationen: Lieber ins Nachbarland

Weltweit boomt die Schönheitschirurgie. Aber Zahlen zeigen: Schweizerinnen lassen sich lieber im Ausland operieren.

image

Südkoreas Ärzte protestieren - gegen mehr Studienplätze!

In Südkorea streiken die Ärzte. Sie fürchten die Konkurrenz, wenn es wie geplant 2000 Studienplätze mehr geben sollte.

Vom gleichen Autor

image

Bedrohtes Spital geht langsam wieder in Normalbetrieb

Eine 65-Jährige verschanzte sich mit einer Schreckschusswaffe in einem Aachener Spital. Die Verantwortlichen sind «zutiefst erschüttert».

image

Gefragter Aarauer Frauenarzt macht sich selbständig

25 Jahre lang war Dimitri Sarlos an der Frauenklinik des Kantonsspitals Aarau angestellt. Im Oktober eröffnet der Chefarzt eine eigene Praxis.

image

Basler Privatspitäler wollen auch günstige Darlehen vom Kanton

In Basel geht der Streit zwischen Privatspitälern und Universitätsspital weiter: Die Privatspitäler wollen künftig ebenfalls Kredite vom Kanton.