Wo dem Schweizer Pflegepersonal der Schuh drückt

Teamgeist und Jobklima sind offenbar sehr gut im Pflegebereich – und Mobbing kaum ein Thema. Weshalb steigen doch so viele Pflegeprofis aus? Zum Beispiel, weil es bei Mitsprache, Entwicklungschancen und im Privatleben harzt.

, 4. Mai 2016 um 12:47
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Eigentlich weiss man es ja: Wer in der Pflege arbeitet, wird dort kaum pensionierungsreif. Laut neuen Daten, gestern veröffentlicht, steigen in der Schweiz knapp die Hälfte der ausgebildeten Pflegefachleute im Lauf ihrer Karriere aus – aus dem Beruf oder gleich aus der ganzen Gesundheitsbranche.
Ein Wissenschaftler-Team dreier Hochschulen aus Genf, Lausanne und Bern hat nun auch nach den Gründen gesucht. Unter dem Titel «Nurses at Work» startete es vorletztes Jahr eine Riesenstudie, an der über 15’000 Pflegefachpersonen aus allen Landesteilen mitmachten – die bislang grösste nationale Studie zu den Laufbahnen im Pflegeberuf.

Véronique Addor, René Schwendimann, Jacques-Antoine Gauthier, Boris Wernli, Dalit Jäckel, Adeline Paignon: «Nurses at work» – Studie zu den Laufbahnen im Pflegeberuf über die letzten 40 Jahre in der Schweiz, «Obsan Bulletin» 8, Mai 2016.

Ein erstes Ergebnis: Eigentlich ist man sehr zufrieden. 88 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer äusserten sich zufrieden mit ihrer gegenwärtigen Arbeitsstelle.
Als Faktoren mit guten Noten wurden genannt wurden:

  • Die eigenständige Gestaltung der Arbeitsabläufe,
  • die Anwendung und Entwicklung von Fertigkeiten,
  • das Arbeitsklima,
  • die Kommunikation mit Vorgesetzten, Ärzten und anderen Teamkollegen,
  • die Unterstützung im Team und Umfeld,
  • die Verfügbarkeit von Patienteninformationen,
  • die Anerkennung der Arbeit,
  • die Identifikation mit dem Betrieb.
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Wie blickt man zurück? Diese Zufriedenheitsnoten gaben AussteigerInnen dem Pflegejob im Gesundheitswesen.
In all diesen Punkten gaben die Pflegefachleute ihrer aktuellen Tätigkeit besonders hohe Zufriedenheitswerte – Werte von von über 80 Prozent.
Ebenfalls erfreulich ist, dass Mobbing und Gewalterfahrungen (verbale oder physische Aggression von Patienten; sexuelle Belästigung) offenbar kaum zum Pflegeberuf gehören: Nur 1 bis 3 Prozent nannten solche Erfahrungen als Faktoren, die ihre Job-Zufriedenheit beschädigten.
Dennoch: Es gab auch tiefe Zufriedenheitsnoten. Und zwar betrafen sie vor allem:

  • die Flexibilität der Arbeitszeiten,
  • die Nurse-Patient-Ratio,
  • die Arbeitsbelastung,
  • die Entwicklungsmöglichkeiten im Betrieb,
  • die eigene Gesundheit,
  • die Mitsprache bei Entscheidungen (was bekanntlich auch ein ein politisch durchaus umstrittenes Themenfeld bietet),
  • Erschöpfungsgefühle.

Nun sind Zufriedenheits-Gefühle nicht unbedingt dasselbe wie Kündigungsgründe – und so suchten die Forscher unter der Leitung von Véronique Addor auf ihren Fragebögen auch danach, weshalb denn jemand den Beruf links liess. Hier kristallisierten sich aus den Antworten folgende Hauptgründe heraus:

  • mangelnde Identifikation mit dem Pflegeberuf,
  • zu wenig Zeit für das Privatleben, Interesse an einem anderen Beruf, ungenügende Unterstützung durch die Vorgesetzten,
  • der Wunsch, eine Aus- oder Weiterbildung zu machen.

Aber es wurde noch Grundsätzlicher: Bei den Voll-Aussteigern – also jenen, welche gleich die Branche hinter sich gelassen hatten – wurde auch nach den tieferen Ursachen gefragt: Was waren die Hauptprobleme bei der früheren Stelle im Gesundheitsbereich?
Hier nannten die Pflegefachpersonen als entscheidende Punkte:

  • die Beeinträchtigung des Privatlebens durch die Arbeit,
  • den Lohn,
  • die Arbeitsbelastung,
  • die Flexibilität der Arbeitszeiten,
  • Erschöpfungsgefühle,
  • fehlende Entwicklungsmöglichkeiten im Betrieb.

«Bei der langfristigen Bindung des Pflegepersonals besteht somit noch Verbesserungspotenzial», lautet einmal eine Einschätzung der Studie. Und sie leitet auch eine Reihe von Empfehlungen aus den 15'000 Fragebögen ab.
Zum Beispiel, dass sich die Bindung von Pflegefachpersonen verbessern liesse, wenn man diese in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützen könnte.
Weitere Massnahmen wären angemessenere Lohnskalen, mehr Mitspracherecht bei Entscheidungen («Empowerment»), niedrigere Arbeitsbelastung sowie mehr Entwicklungsmöglichkeiten im Betrieb. 
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