«Not recommended»: Die Krebsmittel, von denen die Fachwelt nichts hält

Wieviele neue Onkologika sind unnötig? Nun gibt es eine Antwort auf die heikle Frage. Sie ist ernüchternd.

, 15. Juli 2016 um 10:00
image
  • onkologie
  • forschung
Weshalb wurden die Krebsmittel in den letzten Jahren so atemberaubend teuer? 
Eine Antwort, die man gelegentlich von Pharma-Managern inoffiziell hört, lautet: Weil sie heute auch wirklich helfen. 
Das lässt auf starke Fortschritte in der Krebstherapie schliessen – und es wird bekanntlich durch die Meldungen über atemberaubende Silberstreifen am Horizont der Immuntherapie noch unterstrichen.
Aber wo stehen wir wirklich? Eine eher ernüchternde Bestandesaufnahme kommt jetzt aus Wien. Denn dort wurden nun die Erfolge jener Onkologika untersucht, welche in den letzten Jahren neu zugelassen wurden (beziehungsweise mit einer neuen Indikation in der Krebstherapie eingesetzt werden konnten).
Konkret: Das Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessment nahm 73 Mittel ins Visier, welche zwischen 2009 und 2015 in Österreich zugelassen worden waren. Dabei erarbeitete es aber zugleich einen internationalen Vergleich. Denn die Autoren des Boltzmann-Instituts werteten Einschätzungen aus mehreren europäischen und nordamerikanischen Ländern aus, inklusive Arbeiten von Organisationen wie der europäischen Onkologie-Gesellschaft ESMO, der amerikanischen ASCO, dem deutschen IQWiG oder der WHO. 

Grössmann, N., Wild, C., Mayer, J.: «Onkologika: Übersicht zu Nutzenbewertungen und Refundierungspolitiken in Europa». Rapid Assessment LBI-HTA Nr. 08 / 2016. Wien: Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessment.

Und da die Schweiz (wie Österreich) zu den early adopters zählt und neue Wirkstoffe recht liberal bewilligt, gehören die hier erfassten Medikamente weitestgehend auch zum therapeutischen Alltag in der Schweiz.
Ein Eindruck, der nun entsteht: Selbst viele Mittel, die erst in den letzten Jahren zugelassen wurden, sind faktisch unnütz. Konkret melden die Wiener Wissenschaftler: 

  • Bei insgesamt 73 Medikamenten in 114 Indikationen konnte in 26 Fällen nicht gesagt werden, dass sie das Leben verlängern oder den Fortschritt der Krankheit dämpfen.
  • In 37 Fällen liess sich eine Lebensverlängerung um bis zu 3 Monate festmachen.
  • Und in 14 Fällen lag die statistische Lebensverlängerung zwischen 3 und 5,8 Monaten.

image
«Not recommended»: Einheitlich negativ bewertetete Medikamente/Indikationen – Alle Bewertungen kommen zum gleichen Ergebnis. (Quelle/Grafik: LBI-HTA)
Eine Basis der Boltzmann-Studie bildet die Aufarbeitung, welche Medikamente in welchen Ländern durch Kassen, Sozialversicherungen oder im Rahmen des staatlichen Gesundheitssystems übernommen werden – ob in Nordamerika oder Europa beziehungsweise von Skandinavien bis Italien. Auch hier findet sich eine Qualitätsbeurteilung der Medikamente, und die fiel insgesamt mässig aus.
Konkret: 14 Medikamente in 15 Indikationen wurden durchwegs negativ beurteilt («not recommended»). Auf der anderen Seite wurden 16 Medikamente in 22 Indikationen durchwegs positiv beurteilt («recommended»). 27 weitere Medikamente in 34 Indikationen werden zwar nicht einheitlich, aber doch von den meisten Organisationen respektive Staaten, in denen das Medikament eingesetzt wird, negativ eingeschätzt. Zum Beispiel mit Beurteilungen wie «nur geringer Zusatznutzen».
Erwähnt sei, dass 11 der 14 durchwegs als «not recommended» eingestuften Medikamente in der Schweiz zugelassen und im therapeutischen Einsatz sind.
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Mediziner zeichnen diese vier Nachwuchsforscher aus

Die Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) würdigt junge Internistinnen und Internisten mit je einem 50'000-Franken-Preis.

image

Künstliche Intelligenz kann Krebs drei Jahre vor der Diagnose erkennen

Künstliche Intelligenz (KI) kann bei der Früherkennung einiger Krebsarten bis zu drei Jahre vor der herkömmlichen Diagnose helfen. Dies haben Harvard-Forschende herausgefunden.

image

Die steigende Lebenserwartung hat ihren Preis

Eine neue Studie verdeutlicht den erhöhten medizinischen Pflegebedarf vieler alter Menschen vor ihrem Tod. Es ist die erste Studie mit Aussagekraft für die gesamte Bevölkerung.

image

Was Ärzte und das Pflegepersonal von Spitalclowns lernen können

Clowns in Spitälern muntern vor allem die kleinsten Patienten in Spitälern auf. Aber auch das Gesundheitspersonal kann Fähigkeiten von Clowns in ihrer Arbeit am Spitalbett einsetzen.

image

Studie: Fast jede Pflegeperson erlebt sexuelle Belästigung

Laut einer aktuellen Studie erlebt 95,6 Prozent des Pflegepersonals sexuelle Belästigung. Mehr als zwei Drittel der Befragten waren körperlichen Übergriffen ausgesetzt.

image

Blasenkrebs: Dank künstlichen Mini-Tumoren soll die Therapie verbessert werden

Berner Forschenden ist es gelungen, künstliche Mini-Blasentumore zu züchten, an denen sich Medikamente besser testen lassen. Damit sollen die personalisierten Therapien verbessert werden.

Vom gleichen Autor

image

Brust-Zentrum Zürich geht an belgische Investment-Holding

Kennen Sie Affidea? Der Healthcare-Konzern expandiert rasant. Jetzt auch in der Deutschschweiz. Mit 320 Zentren in 15 Ländern beschäftigt er über 7000 Ärzte.

image

Wer will bei den Helios-Kliniken einsteigen?

Der deutsche Healthcare-Konzern Fresenius sucht offenbar Interessenten für den Privatspital-Riesen Helios.

image

Deutschland: Investment-Firmen schlucken hunderte Arztpraxen

Medizin wird zur Spielwiese für internationale Fonds-Gesellschaften. Ärzte fürchten, dass sie zu Zulieferern degradiert werden.