Mysteriös: Alle 7 Minuten ein zusätzlicher Todesfall

In den ersten Wochen dieses Jahres starben in England 10’000 Menschen mehr als im gleichen Zeitraum der Vorjahre. Und zwar nicht wegen Wetter, Demographie oder Grippe. Ein Rätsel übers Funktionieren des Gesundheitswesens.

, 16. März 2018 um 13:24
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Die Spurensuche wurde gestern im «British Medical Journal» veröffentlicht, verfasst von Forschern der London School of Hygiene sowie der Universität Oxford. Sie hatten bemerkt, dass die Statistik in England und Wales für die ersten sieben Wochen des laufenden Jahres 93’990 Todesfälle aufweist. Das war mehr als üblich – und zwar massiv: In den fünf letzten Jahren waren in den ersten sieben Wochen durchschnittlich 83’615 Menschen gestorben. 
Lucinda Hiam, Danny Dorfling: «Rise in mortality in England and Wales in first seven weeks of 2018», in: BMJ, 15. März 2018.
Die Ärztin Lucinda Hiam und der Geograph Danny Dorfling überprüften alle naheliegenden Faktoren: Ein unüblich kalter Winter? Nein.
Demographie? Nein. Sie könnte höchstens einen stetigen Anstieg erklären, aber gewiss nicht einen Sprung um 12,5 Prozent.
Etwa die Grippewelle? Auch da: Nein. Es passte nicht zum epidemologischen Verlauf, und vor allem war der Anteil der Todesfälle, die auf Atemwegserkrankungen und Lungenentzündungen zurückgeführt wurde, in den ersten Wochen des Jahres 2018 nicht signifikant höher als in den Vorjahren. 
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Todesfälle in England und Wales, Woche für Woche: Vergleich 2018 mit dem Durchschnitt 2013–2017
Für die Autoren ist klar: Die Veränderung lässt sich nur aus dem Gesundheitssystem erklären. Hiam und Dorfling geben zwar keine ganz präzise Deutung ab. Sie weisen nur auf ein interessantes Detail: Am 2. Januar entschied die Leitung des staatlichen Gesundheitssystems NHS, tausende Wahleingriffe abzusagen und ausfallen zu lassen.
Natürlich lässt sich dies nicht direkt verbinden – die Beziehung müsste ja eher umgekehrt sein, ein Verzicht auf Operationen könnte kurzfristig sogar die Mortalität senken. Wahrscheinlicher aber zeigt sich hier wie dort, dass das System an seine Grenzen gelangt ist und viele Spitäler plötzlich an den Grenzen ihrer Betriebsfähigkeit weiterlaufen.

Nur noch ein Drittel der Intensivstationen auf Normalbetrieb

Das ist in Grossbritannien kein Geheimnis. Das Gesundheitssystem NHS steckt in einer Versorgungskrise. Das dominierende Problem ist dabei der Mangel an Fachkräften. Ein Beispiel: 62 Prozent der Intensivstationen können nicht auf Normalbetrieb geführt werden, weil es an Pflegepersonal fehlt. Und letztes Jahr sank die Zahl der ausgebildeten Pflegekräfte (registered nurses) erstmals seit 2008.
Damit ist der geschilderte Sprung in den Todesfällen zwar noch nicht geklärt, aber man ahnt, wo zu suchen wäre.
Im BMJ-Editorial wird nun klar gefordert, dass dieser Sprung in den Todesfällen intensiv untersucht wird – und zwar auch durch eine eigene Parlamentskommission.
Kein Zweifel: Die Ergebnisse und Zusammenhänge, die da ans Licht kommen, wären von Interesse für alle, die im Gesundheitswesen arbeiten.
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