Klagen gegen Mediziner: Viele weisse Kittel, einzelne schwarze Schafe

Einmal Probleme, mehrfach Probleme: Ein Prozent aller Ärzte verantwortet alleine ein Drittel aller erfolgreichen Patientenklagen. Und je öfter ein Arzt angeklagt wird, desto eher bekommt er ein weiteres Rechtsproblem.

, 1. Februar 2016 um 09:00
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Es gibt unter den Medizinern offenbar eine heikle Gruppe von riskanten Akteuren: Dies besagt eine gross angelegte Auswertung von 66'400 Fällen, in denen Mediziner in den USA Genugtuungs- und Entschädigungs-Zahlungen leisten mussten. Denn heraus kam, dass 1 Prozent aller Ärzte alleine verantwortlich ist für fast ein Drittel aller so erfassten medizinischen Schäden. 
Und gross ist die statistische Gefahr, dass ein einmal verurteilter Arzt ein weiteres Mal – oder sogar mehrere Male – mit einer Klage konfrontiert wird; je öfter ein Mediziner eine Zahlung leisten muss, desto grösser wird dieses Risiko sogar.
Für die Untersuchung nahmen die Wissenschaftler – Mediziner und Juristen der Universitäten von Stanford und Melbourne – malpractice claims, die zwischen 2005 und 2014 gegen Ärzte angestrengt und gewonnen worden waren. 84 Prozent der verurteilten beziehungsweise vergleichenden Mediziner mussten im Beobachtungs-Jahrzehnt nur einen Fauxpas berappen. 16 hatten zwei Problemfälle und mehr, wobei 4 Prozent sogar drei oder mehr Verurteilungen hatten. Diese 4 Prozent waren allein schon für 12 Prozent aller Urteile beziehungsweise kostenpflichtigen Vergleiche verantwortlich.

David M. Studdert, Marie M. Bismark, Michelle M. Mello et. al.: «Prevalence and Characteristics of Physicians Prone to Malpractice Claims», in: «New England Journal of Medicine», Januar 2016.

Heraus kam auch, wer am ehesten ein Klage-Risiko trug: 

  • Überproportional häufig angeklagt waren Männer (82 Prozent).
  • Interessanterweise hatte ältere Mediziner statistisch häufiger Probleme als ihre jüngeren Kollegen.
  • Mehr als die Hälfte der Fälle entfielen auf vier Fachgebiete, nämlich Innere Medizin, Gynäkologie und Geburtshilfe, allgemeine Chirurgie sowie Hausarzt-Medizin.
  • Hier spiegeln sich natürlich auch die Grössenverhältnisse beziehungsweise die Häufigkeit – statistisch bereinigt ist das Risiko einer Klage bei Neurochirurgen, Orthopäden, allgemeinen Chirurgen, plastischen Chirurgen sowie Gynäkologen am höchsten.
  • Am tiefsten ist es bei Psychiatern und Pädiatern.

So weit, so logisch: Aus einsichtigen Gründen riskieren es Neurochirugen eher als Psychiater, einen folgenreichen (und auch juristisch greifbaren) Fehler zu begehen.

Wer einmal einen Fehler tut…

Dennoch: Die Studie zeigt eben auch auf, dass unabhängig von Fachgebiet oder anderen Faktoren wie dem Alter ein statistischer Zusammenhang besteht: «Der stärkste Anzeichen dafür, dass ein Arzt eine Klage riskiert, bestand darin, dass er früher schon eine Klage gehabt hatte», filtern die Autoren aus den Daten, die insgesamt 54'000 Ärzte erfassten.
Oder anders: «Verglichen mit Ärzten mit bloss einer vorgängigen Klage lief ein Arzt, der schon drei Klagen hatte, auch ein dreimal grösseres Risiko, dass er eine vierte bekam», fasste David Studdert, Stanford-Professor für Medizinrecht und einer der Autoren, im National Public Radio die Zahlen zusammen. «Ein Arzt mit bereits vier Klagen bekommt mit viermal höherer Wahrscheinlichkeit eine weitere.»

Positiv: 94 Prozent hatten im ganzen Jahrzehnt kein Problem

Man kann die ganze Sache auch sehr positiv sehen: Nur 6 Prozent der 54'000 erfassten Ärzte mussten im erfassten 10-Jahres-Zeitraum wegen ihrer Arbeit eine Buss-, Genugtuungs- oder Vergleichszahlung leisten. Und das im klagefreudigen Amerika…
Was lässt sich nun folgern? David Studdert und seine Kollegen deuten einen wichtigen Punkt an: Die Möglichkeit, klageanfällige Mediziner früh zu erkennen, wäre ein wichtiger Beitrag, die Gesundheitsversorgung zu verbessern. 
Und man kann auch folgern: Das in dieser Studie aufgezeigte Muster zeigt, dass eine Patientenklage tatsächlich ein wichtiges Warnsignal sein könnte.
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