«Ich kenne Ärzte, die leisten mehr als 100 Tage Notfalldienst pro Jahr»

Der Notfalldienst stellt sowohl für Ärzte als auch für den Berufsverband eine komplexe Angelegenheit dar. Michel Meier ist zuständig für die Notfalldienst-Verfahren im Kanton Solothurn. Im Interview spricht der Rechtsanwalt über die Organisation dieser öffentlichen Aufgabe.

, 18. März 2022 um 06:00
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    Michel Meier

    Rechtsanwalt | lic. iur.

    Michel Meier ist Rechtskonsulent der Gesellschaft der Ärztinnen und Ärzte des Kantons Solothurns (Gaeso). Der Jurist ist zuständig für die Notfalldienst-Verfahren im Kanton. Der 46-jährige Rechtsanwalt ist unter anderem auf Gesundheitsrecht spezialisiert.

Herr Meier, Sie sind zusammen mit der Notfalldienstkommission im Kanton Solothurn für die Verfahren der Notfalldienste zuständig. Wer ist überhaupt verpflichtet, Notfalldienst zu leisten?
Alle im Kanton Solothurn niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, die in der ambulanten medizinischen Versorgung der Bevölkerung tätig sind und nicht bereits einen anerkannten Notfalldienst in einer entsprechenden Institution leisten, sind verpflichtet, sich an einem regionalen Notfalldienst zu beteiligen und diesen einwandfrei zu gewährleisten. Das betrifft insbesondere alle Ärztinnen und Ärzte, die in eigener fachlicher Verantwortung tätig sind. 

«Häufig ist der Notfalldienst ein Killerkriterium, einen Arbeitsort nicht auszuwählen, mithin Regionen die sonst schon schlecht versorgt sind.»

Das Thema Notfalldienst führt immer wieder zu Diskussionen. Warum?
Die Grundlage für den Notfalldienst liegt im Medizinalberufegesetz des Bundes, verantwortlich sind indessen die Kantone, welche diese Aufgabe den Berufsverbänden übertragen haben. An sich ist es vergleichbar mit der Dienstpflicht Militär oder Feuerwehr. Problematisch sind die grossen Unterschiede in den Regionen: Ein Arzt im Hinterland auf dem Berge wird viel mehr Einsätze haben als solche in einer Grossstadt. Es wäre ratsam und wichtig, wenn eine maximale Anzahl Tage in der ganzen Schweiz gelten würde. Häufig ist der Notfalldienst ein Killerkriterium, einen Arbeitsort nicht auszuwählen, mithin Regionen die sonst schon schlecht versorgt sind. Eine Abwärtsspirale die durch die Kantone durchbrochen werden müsste.
Finden die Kantone überhaupt genügend Ärztinnen und Ärzte für den Notfalldienst?
Die Beteiligungszahlen werden knapp, weil es immer weniger Grundversorger gibt. Häufig funktioniert der Notfalldienst zusammen mit den Spitälern, aber es sind keine Spitalärzte, sondern Hausärzte die nach ihrem langen Arbeitstag noch am Abend oder an Feiertagen den Notfalldienst leisten.
Gibt es auch Situationen, in denen Ärztinnen und Ärzte kein Notfalldienst leisten müssen?
An sich ist eine Dispensation nicht vorgesehen. Es handelt sich um eine persönliche Pflicht der universitären Medizinalberufe. Fachärzte, welche aufgrund ihrer Spezialität nicht in der Notfallversorgung tätig sein können, haben aus Gleichbehandlungsgründen eine Ersatzabgabe zu leisten. Gleiches gilt auch für Ärztinnen und Ärzte, welche vorübergehende Einschränkungen in der beruflichen Tätigkeit aufweisen: wie etwa Krankheit oder Unfall oder körperliche Einschränkungen, Schwangerschaft und auch besondere Betreuungsverfplichtungen wie beispielsweise gegenüber Kindern.
 
«Wir wollten auf jeden Fall verhindern, dass die Bezahlung attraktiver wäre als der persönliche Einsatz.»

Sie sprechen die Ersatzabgabe an. Wie lässt sich diese vernünftig festlegen? 
Wir haben damals in der Notfalldienstkommission viel Aufwand betrieben und Abklärungen getroffen, um für den Kanton Solothurn durchschnittliche Einsatztage im Notfalldienst abzubilden. Gerade Kinderärztinnen und Kinderärzte haben grosse Einsatzzeiten, die in der Ersatzabgabe nicht 1:1 abgebildet werden hätten können. Wir haben daher die Ausgangslage der Grundversorger genommen und deren Einsatzzeiten umgerechnet. Wir wollten auf jeden Fall verhindern, dass die Bezahlung attraktiver wäre als der persönliche Einsatz. 
Und wie hoch ist die Ersatzabgabe?
Die Ersatzabgabe von den von der Notfalldienstpflicht wurde im Gesetz von 300 bis 1'000 Franken pro Notfalldienst und maximal 15'000 Franken pro Jahr festgelegt. Die Höhe richtet sich nach dem Umfang der von den Angehörigen der Berufsgruppe jährlich zu leistenden Notfalldienste in einem 100-Prozent-Pensum. Derzeit sind das 7'500 Franken. Die Ersatzabgabe wird dann nach Pensum abgebildet. Das heisst: wer nur ein 40-Prozent-Pensum in Solothurn aufweist, hat 40 Prozent der Ersatzabgabe zu entrichten. 
Was passiert mit diesem Fonds?
Die Ersatzabgabe fliesst vollständig in den Notfalldienstfonds und kann nur für deren Zweck verwendet werden.

«Wenn wir nichts hören, verfügt die Kommission gestützt auf die Informationen, die wir kennen. Auch in der Hoffnung, dass der Adressat dann eine Rückmeldung macht, wenn eine Annahme falsch war.»

Ein Arzt im Kanton Solothurn ging vor kurzem bis vor Gericht (mehr hier), um weder Notfalldienst noch eine Ersatzabgabe leisten zu müssen. Ein Einzelfall? 
Wir haben während Jahren immer wieder eng, auch an den Mitgliederversammlungen über den Notfalldienst orientiert. Letztlich führen wir im Namen des Kantons eine Tätigkeit aus. Dabei gab es immer wieder Auseinandersetzungen, wenn die nötigen Kenntnisse oder Grundlagen fehlten. Wir versuchen mit einem einfachen Verfahren diese Lücken zu schliessen und fangen die neuen Ärztinnen und Ärzte, die eine Berufsausübungsbewilligung erhalten, frühzeitig ab und holen sie ab, um sie zu informieren. Wir verstehen, dass unser Angebot nicht überall ankommt. Wenn wir nichts hören, verfügt die Kommission gestützt auf die Informationen, die wir kennen. Auch in der Hoffnung, dass der Adressat dann eine Rückmeldung macht, wenn eine Annahme falsch war. Da die Frist zur Beschwerde gemäss kantonaler Gesetzgebung nur zehn Tage beträgt, gibt es ab und wann eine Beschwerde ans Departement. Die blinden Flecken im Sachverhalt können dann vom Departement erhellt werden und ungenügende Rückmeldung werden geheilt. Das ist der häufigste Fall, der Gang vor Verwaltungsgericht ist sehr selten, was letztlich auch für die konzise Arbeit der Notfalldienstkommission spricht. Diese besteht ausschliesslich aus Ärztinnen und Ärzten, die ihrerseits auch den Notfalldienst in den verschiedenen Regionen organisieren.
Was sind die Hauptgründe für Unstimmigkeiten und Pflichtverletzungen?
Häufig ist es die Hoffnung oder das Bedürfnis, nicht über den sonst schon langen Arbeitstag hinaus, Dienst zu leisten. Die «Work-Life-Balance» wird immer wichtiger, dabei sind Notfalldiensteinsätze hinderlich. Der Versuch, diesen zu umgehen, ist zwar nachvollziehbar, aber letztlich unfair gegenüber den anderen Notfalldienstleistenden und damit eine Äufnung in der Lücke der Notfallgrundversorgung.

«Wenn die Regierung diese Aufgabe an den Berufsverband überträgt, verschiebt er nicht nur die Einsatzstunden auf die Ärzteschaft, sondern auch deren Organisation inklusive der damit verbundenen Friktionen.»

Die Solothurner Regierung hat die Ärztegesellschaft Gaeso mit dem Notfalldienst als öffentliche Aufgabe beauftragt. Wo genau liegen die Schwierigkeiten aus Sicht der durchführenden Organisation?
An sich macht es sich der Staat sehr einfach, wenn es um die ambulante Medizin geht. Er gibt den Tarif mit den Positionen und damit den Lohn der Ärzteschaft einseitig vor. Der Kanton ist verantwortlich für die funktionierende Grundversorgung und damit auch für den Notfalldienst. Deren Organisation und die Einsetzung von angestellten Ärztinnen und Ärzte würde den Staat hunderttausende von Franken kosten. Wenn die Regierung diese Aufgabe an den Berufsverband überträgt, verschiebt er nicht nur die Einsatzstunden auf die Ärzteschaft, sondern auch deren Organisation inklusive der damit verbundenen Friktionen. Die Übernahme des Notfalldienstes ist damit nicht nur für jede einzelne Ärztin und jeder einzelne Arzt eine hohe Mehrbelastung im sonst schon fordernden Berufsalltag, sondern auch eine mühsame und schwierige Aufgabe der Berufsverbände zur Organisation und Durchsetzung, die oft Diskussionen auslöst, um dieser öffentlichen Aufgabe gerecht zu werden. 
Wäre es demnach nicht zielführender, wenn der Bund eine einheitliche Regelung durchsetzen würde?
Die Organisation des Notfalldienstes sollte meines Erachtens kantonal beibehalten werden, aber eine nationale Regelung eines Maximums von Einsatztagen oder den Ersatzabgaben wäre wünschenswert und würde der nötigen Gleichbehandlung entgegenkommen.
Ein Blick auf andere Kantone: Wie regeln und organisieren die anderen Kantone den Notfalldienst?
An sich ist analog dem Solothurner Modell, es gibt aber regionale Unterschiede, insbesondere auch mit Blick auf die Einsatztage. Ich kenne Ärzte, die leisten mehr als 100 Tage Notfalldienst pro Jahr. Diese Ungleichbehandlung wird sich in naher Zukunft noch mehr akzentuieren, wenn es immer weniger Grundversorger gibt.

«Der Einsatzwille und die Bereitschaft unserer Ärzteschaft mit seinem medizinischen Personal ist riesig und hätte auch mal mehr als nur Applaus auf dem Balkon verdient.»

Letze Frage: Welche Bedeutung kommt dem hausärztlichen Notfalldienst grundsätzlich zu? Oft hört man, der Mangel an Hausärzten führe die Leute bei einem akuten Problem sowieso direkt in den Spital-Notfall.
(Lacht) Nun im Spitalnotfall treffen sie häufig wieder auf ihren Arzt. Es sind im Kanton Solothurn wie angesprochen, unsere Hausärztinnen und Hausärzte, die in den vorgelagerten Notfallstellen im Spital arbeiten. Das sind dann unter Umständen sehr lange Arbeitstage. Wir haben nicht nur klassischen Notfalldienst, sondern bieten auch Hintergrunddienste an, dies geschieht beispielsweise in Altersheimen oder auch zur Unterstützung von psychiatrischen Abklärungen. Der Notfalldienst ist damit sehr facettenreich und hätte eigentlich den Stellenwert im Tarif und den Einsatztagen verdient. Der Einsatzwille und die Bereitschaft unserer Ärzteschaft mit seinem medizinischen Personal ist riesig und hätte auch mal mehr als nur Applaus auf dem Balkon verdient.  
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