Steigende Gesundheitsausgaben – Alarmismus schadet

Eine Studie der Boston Consulting Group (BCG) prognostiziert bis 2040 steigende Gesundheitsausgaben pro Kopf zwischen 45 und 60 Prozent. Nur mit intelligenter Regulierung kann das Wachstum gebremst werden.

, 22. April 2022 um 11:00
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«Mit den Ideen und Ansätzen zur Kostenlimitierung der vergangenen 10 Jahre ist unter Berücksichtigung der demografischen Effekte bis 2040 eine Steigerung der Gesundheitsausgaben von aktuell 82 Milliarden Schweizer Franken auf 155 Milliarden Franken zu rechnen – das entspricht einem Anstieg um rund 90 Prozent», schreiben die Studienautoren der BCG. Sie glauben, dass mit einer Fortsetzung der Kostenstabilisierung der letzten 5 Jahre das Ausgabenwachstum bis ins Jahr 2040 70 Prozent und ohne 115 Prozent betragen wird.
Ich habe mir die Studie angeschaut und möchte auf ein paar Schwächen und Stärken aufmerksam machen. Grundsätzlich ist es gut, dass überhaupt jemand in die Zukunft schaut. Comparis finanziert deshalb die jeweils im November publizierte Prognose der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich. Es ist jetzt wichtig, dass man in Bundesbern von der Kosten-, Prämien und Regulierungshysterie wegkommt und endlich langfristige Rahmenbedingungen schafft, welche die immer besser ausgebildeten Fachleute im Gesundheitswesen nicht mit immer mehr Bürokratie belästigt, sondern ihnen ermöglicht für die Patientinnen und Patienten das Richtige richtig zu tun.

Warum die einheitliche Finanzierung dringend notwendig ist

Ein wissenschaftlich fundierter Blick in die Zukunft ist nicht ohne seriöse Analyse der Vergangenheit möglich. Leider ist der Rückblick in der BCG-Studie auf die «Kostenstabilisierung» der letzten 10 bzw. 5 Jahre unter Bundesrat Alain Berset zu wenig differenziert. Die einzigen Reformen mit positiver Wirkung auf die Kosten und Qualität der medizinischen Leistungen zu Lasten der Grundversicherung, die ich erkenne und die in der Studie nicht erwähnt werden, sind die vor der Ära Berset beschlossenen Pflege- und Spitalfinanzierung sowie der stetig verbesserte Risikoausgleich. Kostendämpfend haben auch die vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) reduzierten Preise für Analysen, Medikamente sowie Mittel und Gegenstände. Die von Kantonen initiierten Listen mit Operationen, welche ohne medizinische Gründe nur noch ambulant statt stationär durchgeführt werden dürfen, haben vor allem die Kantonsbudgets entlastet, weil sich die Kantone mit 55 Prozent an jeder stationären OP beteiligen, aber nichts an eine ambulant durchgeführte OP bezahlen. Deshalb ist die einheitliche Finanzierung der ambulanten stationären Medizin (EFAS) dringend notwendig. Bei allen anderen Reformen der Ära Berset sehe ich eher höhere Bürokratiekosten als mehr Effizienz und Qualität in der medizinischen Versorgung.
Ein weiterer Schwachpunkt der BCG-Kostenprognose ist die fehlende Differenzierung zwischen den mit Zwangsabgaben (Steuern und Grundversicherungsprämien) und den privat (Krankenzusatzversicherungsprämien und Direktzahlungen) finanzierten Teilen der Gesundheitsausgaben. Die Politik muss mit intelligenterer Regulierung als bisher in der Ära Berset dafür sorgen, dass durch richtige Anreize der mit Zwangsabgaben finanzierte Teil nicht zu stark wächst. Jährlich um die 2 Prozent scheint mir ein realistisches Ziel zu sein. Und für aussergewöhnliche Kostenschwankungen, wie wir aktuell eine erleben, haben die Krankenversicherer Reserven, wenn die Politik sie nicht zum unzeitigen Abbau zwingt. Die Politik muss sich nicht darum kümmern, wie viel die Leute freiwillig via Privatversicherungsprämien oder direkt aus den eigenen Portemonnaies für Gesundheitsleistungen ausgeben, auch nicht darum, ob das Preis-Leistungs-Verhältnis subjektiv stimmt. Es reicht völlig, wenn die Politik die Krankenversicherer befähigt, zu Lasten der Grundversicherung nur wirksame, zweckmässige und wirtschaftliche Medizin zu vergüten, wie es das Krankenversicherungsgesetz schon seit 1996 verlangt.
Auch damit die 8 Ansätze der Studienautoren positiv wirken, ist intelligentere Regulierung als bisher nötig.
  • 1. Mehrstufige Gatekeeping-Systeme in den AVM ausbauen und neue AVM mit ausgeweiteten digitalen Versorgungsansätzen entwickeln: Über 70 Prozent der Grundversicherten haben ein alternatives Versicherungsmodell (AVM). Damit AVM nicht nur Gatekeeping, sondern mehr integrierte Versorgung ermöglichen, brauchen medizinische Leistungserbringer und Versicherer mehr Handlungsspielraum, beim Leistungskatalog, bei den Tarifen und Preisen, bei den Prämien und bei der Dauer der Versicherungsverträge.
  • 2. Integrierte Versorgung ausbauen, hybride Behandlungsansätze entwickeln und Selbstbestimmung stärken – insbesondere Chroniker über ambulante und digitale Behandlungselemente longitudinal begleiten sowie das Selbstmanagement und die Mitbestimmung von Versicherten zur Freisetzung von weiterem Einsparpotenzial fördern: Hier sind die selben Rahmenbedingungen wie unter 1. wichtig. Effizienz und Qualität muss mit Anreizen gefördert und kann nicht mit bürokratischen Vorschriften (Zulassungssteuerung, Qualitätsverträge, Kostensteuerung, Kostenziele etc.) erzwungen werden. AVM mit Capitationverträgen setzen die richtigen Anreize für Effizienz und Qualität.
  • 3. Digital First - die Digitalisierung des Gesundheitswesens flächendeckend umsetzen und Daten zweckbasiert nutzen, um die Akteure zu vernetzen und Behandlungen datenbasiert zu verbessern: Wie bei den analogen Verkehrsnetzen, muss auch beim digitalen Datenverkehr der Staat die Basisinfrastruktur zur Verfügung stellen und Spielregeln für nutzenstiftende Geschäftsmodelle durchsetzen.
  • 4. Sektorengrenzen und unterschiedliche Vergütungsstrukturen aufweichen hin zu einer bedarfsgerechten Ressourcenverteilung, nach Qualität statt nach Menge incentivieren und konsequent Real-World-Evidence-Daten (RWE-Daten) erheben: Wie unter 1. erwähnt, ist hier Spielraum bei den AVM wichtig. Hier sind Freiräume ausserhalb der starren, behördengenehmigten Tarifsysteme für ambulante und stationäre Leistungen sehr wichtig. Leider geht die Regulierung mit nationalen Tariforganisationen, wo Verbände und nicht Unternehmen bestimmen, in die falsche Richtung.
  • 5. Value Proposition in der VVG durch Innovationen und personalisierte Angebote der Zusatzversicherungen neu definieren, um langfristiger Wettbewerbsvorteile zu sichern und die strategische Positionierung der Versicherer zu verbessern: Hier haben Versicherer und Leistungserbringer die Zeichen der Zeit zu lange nicht erkannt und werden jetzt von der Finma eingeengt, anstatt mit mehr Freiräumen ausgestattet. Aber vielleicht macht Not erfinderisch.
  • 6. Gesundheitskompetenz stärken und individuelle Präventionsangebote weiter ausbauen: Die beste Förderung der Gesundheitskompetenz und Prävention ist, soziale Durchlässigkeit, Chancengleichheit und Bildung. Das geht nur mit einer besseren Kooperation des Gesundheits- und Bildungssektors.
  • 7. Ambulantisierung operativer Eingriffe mit einem schweizweiten konsistenten Angebot vorantreiben und die stark fragmentierte Spitallandschaft hin zu hoch spezialisierten Kompetenzzentren mit klar definierten Versorgungsstufen und Verantwortlichkeiten entwickeln: Wenn die Handlungsfelder 1. bis 4. mit den oben skizzierten Anreizen bearbeitet werden, passen die Akteure ihre Strukturen ohne staatliche Planwirtschaft laufend an, denn es gilt: Strukturen folgen Prozessen, und Prozesse folgen Zielen. Und nicht umgekehrt, wie es die Politik oft tut.
  • 8. Generikaquote erhöhen und Preisfestsetzungs-Mechanismen bei Generika anpassen: Bei Tarifen, Preisen und Margen hätte ich mir von den Autoren einen grösseren Wurf gewünscht. Wie oben erwähnt, sollten Leistungserbringer und Versicherer im Bereich der AVM auch Preise, Tarife und Margen selber verhandeln dürfen, auch mit den Herstellern und mit dem Handel in den Bereichen Analysen, Medikamente, Mittel und Gegenstände.
  • 9. Und schliesslich hätte ich mir von den Studienautoren auch ein paar Gedanken zum Handlungsfeld Versorgungssicherheit in der globalisierten Welt gewünscht. Die Coronapandemie und Putins Krieg gegen die Ukraine zwingen uns, dazu etwas mehr Gedanken zu machen, als hier und dort den Selbstversorgungsgrad erhöhen zu wollen.
Von Bundesbern wünsche ich mir etwas weniger kurzfristige und kurzsichtige Regulierungshektik und etwas mehr intelligente Regulierung im oben beschriebenen Sinne und danke den Autoren der BCG-Studie für ihre inspirierenden Gedanken.
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