Fahren wir das Gesundheitswesen an die Wand? Eine Replik

«Die stark steigenden Kosten gefährden unser Gesundheitswesen», sagte Santésuisse-Direktorin Verena Nold in einem Gastbeitrag. Fridolin Marty von Economiesuisse erhebt Einspruch.

, 22. April 2023 um 04:30
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«Die Ausgaben für Arzneimittel sind nicht stärker gestiegen als alle anderen Kostenblöcke», sagt Fridolin Marty von Economiesuisse. | zvg
«Damit die Prämien in 10 oder gar 20 Jahren noch bezahlbar sind, müssen wir jetzt reagieren», sagte Verena Nold im Gastbeitrag vom 8. April 2023. In ihrem Interview mit dem SonntagsBlick tönte es noch dramatischer: «Wenn wir nichts unternehmen, fahren wir das Gesundheitssystem an die Wand». Gut gebrüllt – aber ein Blick in die Daten genügt, um sich zu beruhigen. Der Schaden ist trotzdem angerichtet. Weshalb wird ein Gesundheitswesen schlecht geredet, obwohl es in internationalen Rankings stets vorne liegt?

«Die Sündenböcke sind ein Sammelsurium von Mythen, welche sich im Gesundheitswesen trotzig halten.»

176 Kommentare zum Interview zeugen von der Besorgnis, aber auch von der Wut der Bevölkerung über das Gesundheitswesen. Die Sündenböcke sind schnell gefunden. Sie sind ein Sammelsurium von Mythen, welche sich im Gesundheitswesen trotzig halten: Schuld an den hohen Prämien sind die Pharmaindustrie, die Ärzte, die Verwaltungskosten der Kassen, der Föderalismus, die Zuwanderung, das letzte Lebensjahr, etc. Die Sorgen der Bevölkerung beruhen auf Fehlinformationen und tendenziösen Aussagen der «Opinionleader». Verena Nold ist eine solche Meinungsmacherin.
Die Belastung des durchschnittlichen Haushalts wird häufig überschätzt. Sie beträgt für die Grundversicherung durchschnittlich 6,7 Prozent. Vor 20 Jahren waren es 4,5 Prozent. Würde der Trend seit 2000 fortgesetzt, müssten wir im Jahr 2040 9.3 Prozent des Haushaltsbudgets für die Krankenversicherung aufwenden.
Dabei muss man wissen, dass der Sparbeitrag am Budget im Schnitt 19.2 Prozent (2020) beträgt, also fast das Dreifache der Belastung durch die Grundversicherung und immer noch das Doppelte der künftigen Belastung. Die Grundversicherung wird für die nächsten zwei Jahrzehnte bei gleicher Entwicklung für den Durchschnittshaushalt somit gut finanzierbar bleiben.

«Der populistische Vergleich von Löhnen und Wirtschaftswachstum ist und bleibt falsch, um die Finanzierbarkeit der Prämien zu beurteilen.»

Der populistische Vergleich von Löhnen und Wirtschaftswachstum ist und bleibt falsch, um die Finanzierbarkeit der Prämien zu beurteilen. Grund dafür ist die unterschiedliche Höhe der beiden Zahlen: Obwohl das Bruttoinlandprodukt (BIP) prozentual weniger stark wächst, wächst es dennoch absolut viel stärker. Gemäss unserer Schätzung wird – bei gleichen Wachstumsraten wie bisher – bis ins Jahr 2158 das BIP-Wachstum in Franken höher bleiben als das Ausgabenwachstum des gesamten Gesundheitswesens.
Sowohl für die Bevölkerung als auch für Verena Nold sind die gestiegenen Arzneimittelkosten ein beliebter Sündenbock für die Prämienentwicklung. Doch die Ausgaben für Arzneimittel sind nicht stärker gestiegen als alle anderen Kostenblöcke. Seit der separaten Erfassung der Spitalmedikamente im Jahr 2004 ist der Anteil der Medikamente sogar leicht gesunken von 23 Prozent auf 22.2 Prozent. Mit der Qualität der Versorgung ist die Bevölkerung zufrieden: Fast zwei Drittel der Befragten beurteilen die Qualität des Schweizer Gesundheitswesens als sehr oder eher gut.

« Für Verena Nold bewegen wir uns punkto Qualität im Blindflug. Dabei sind die Versicherer massgeblich verantwortlich für das Qualitätsmonitoring.»

Für die Krankenkassen-Vertreterin Nold bewegen wir uns hingegen in Sachen Qualität im Blindflug. Das ist erstaunlich, denn die Versicherer sind massgeblich verantwortlich für das Qualitätsmonitoring: Seit 1996 sieht das Krankenversicherungsgesetz nämlich Qualitätsanhänge in den Tarifverträgen vor. Zudem ist es heute problemlos möglich, Qualitätsauswertungen aus den Routinedaten zu machen. Darüber hinaus sind 76.2 Prozent der Versicherten in alternativen Versicherungsmodellen versichert, das heisst mit eingeschränkter Arztwahl und Steuerungsmöglichkeiten für die Kassen.
Falls die Krankenversicherungen sich immer noch im Blindflug bewegen, ist das ihre eigene Schuld. Indessen attestieren internationale Ländervergleiche der Schweiz regelmässig Bestnoten im Bereich Qualität, zum Beispiel die OECD mit ihrem Qualitätsindikator «vermeidbare Todesfälle». Dort ist fürs Jahr 2019 die Schweiz in Europa nicht nur am besten, sondern einige Staaten konnten – im Gegensatz zur Schweiz – noch keine Daten liefern. Zum Beispiel die hochgelobten Länder Dänemark und Schweden.

«Das Schweizer Gesundheitswesen wird in den Medien regelmässig schlecht gemacht.»

Das Schweizer Gesundheitswesen wird in den Medien regelmässig schlecht gemacht. Die empirische Basis wird dabei ignoriert, und es werden bewusst oder unbewusst Falschinformationen gestreut. Als Resultat steigen die Sorgen der Bevölkerung. Die Politik reguliert als Reaktion wie wild in die falsche Richtung und bedroht damit das Erfolgsmodell «Gesundheitswesen». Mit der Studie von PWC zum nutzenorientierten Wettbewerb läge ein vielversprechender Reformplan vor. Damit könnte das Gesundheitswesen qualitativ hochstehend bleiben und zugleich kosteneffektive Ergebnisse erzielen.
Fridolin Marty ist Leiter Gesundheitspolitik bei Economiesuisse.

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