Lernen von den Klassenbesten – auch bei eHealth!

Peter Indra empfiehlt, dass die Schweiz von Estland lernt und dabei die staatliche Kontrolle über Gesundheitsdaten bewahrt, anstatt sie privaten Unternehmen zu überlassen.

, 27. Mai 2023 um 05:00
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«Die Corona-Pandemie hat uns ernüchternd vor Augen geführt, wo es in der Schweiz auf der digitalen Ebene überall mangelt», sagt Pater Indra, gelernter Arzt und Leiter Amt für Gesundheit des Kantons Zürich. | zvg
Die Schweiz versucht schon seit vielen Jahren, ein nationales elektronisches Patientendossier (EPD) zu realisieren; wirklich erfolgreich waren die bisherigen Bemühungen jedoch nicht. Für das Misslingen werden viele Gründe genannt: fehlender Lead, fehlende Koordination, proprietäre Interessen, die fehlende Finanzierung der Infrastruktur und der Dienstleistungen und last but not least auch die doppelte Freiwilligkeit und der Datenschutz.
Die Corona-Pandemie hat uns ernüchternd vor Augen geführt, wo es in der Schweiz auf der digitalen Ebene überall mangelt. Die Pandemie hat aber auch zu einer erhöhten Akzeptanz von Digital-Health-Angeboten geführt und einen eigentlichen digitalen Kulturwandel angestossen, den wir nun aktiv und lösungsorientiert nutzen sollten!
Hier sollten wir von den Klassenbesten lernen: Das kleine Estland gilt als das digital fortschrittlichste Land der Welt; im internationalen Vergleich mit 17 Ländern findet man Estland auf Platz 1 und die Schweiz abgeschlagen auf Platz 14 (Digital-Health-Index der Bertelsmann-Stiftung 2018).
Eine kürzliche Augenschau in Tallin hat mir gezeigt, dass Estland seinen Spitzenplatz zu Recht erhalten hat! Seit seiner Unabhängigkeit 1991 hat Estland konsequent auf den Kurs der Digitalisierung gesetzt. 99,9 Prozent aller Kontakte mit der öffentlichen Verwaltung und alle Wahlen erfolgen heute papierlos und jeder Bürger verfügt als Schlüssel zu allen digitalen Dienstleistungen über einen elektronischen Personalausweis (eID).

«Die elektronische Patientenakte hat in Estland dank ihres herausragenden Nutzens für die Bevölkerung eine hohe Akzeptanz.»

Auch im eHealth-Bereich ist Estland Spitzenreiter; zentrales Element dabei ist das estnische Gesundheitsinformationsaustauschnetzwerk ENHIS, das landesweit ausgebaut ist und wo die gesamte Krankengeschichte der Bevölkerung von der Geburt bis zum Tod registriert ist. Alle Ärztinnen und Ärzte, Spezialisten, Spitäler und Apotheken sind dran angeschlossen und müssen alle Behandlungsdaten in das Register standardisiert eingeben.
Seit über 15 Jahren sind die elektronische Patientenakte (ePA) und das e-Rezept gesetzlich verpflichtend. In der ePA sind alle wichtigen medizinischen Daten von ENHIS abrufbar: sämtliche Arztbesuche inklusive Befunde und Diagnosen, aktuell verordnete Medikamente, Einweisungs- und Entlassungsbriefe der Spitäler und Informationen darüber, ob jemand Organspender ist oder nicht, liegen hier tagesaktuell als strukturierte Metadaten vor.
Der allzeit bereite Zugriff auf diese Daten bietet mehr Komfort, mehr Transparenz und mehr Sicherheit in der gesundheitlichen Versorgung. Eine Identifikation über den elektronischen Personalausweis ist einfach und sicher. Die ePA hat in Estland dank ihres herausragenden Nutzens für die Bevölkerung eine hohe Akzeptanz. Einen solchen Nutzen für unsere Bevölkerung müssen wir in der Schweiz wohl erst noch schaffen!

«Der Patient kann selber entscheiden, wenn er seine Daten nicht teilen möchte, trägt aber selber die Verantwortung dafür, wenn auf Grund fehlender Informationen falsche Entscheidungen getroffen werden.»

Grundlage für die Datennutzung in Estland ist das Opt-Out-Prinzip, dass jeder selber der Eigentümer seiner persönlichen Daten ist und volle Kontrolle über sie hat. Der Patient kann selber entscheiden, wenn er seine Daten nicht teilen möchte, trägt aber selber die Verantwortung dafür, wenn auf Grund fehlender Informationen falsche Entscheidungen getroffen werden. In den letzten 20 Jahren haben sich nur 0,01 Prozent der Bevölkerung entschieden, ihre Daten nicht zu teilen!
Alle Leistungserbringer haben das Recht, die Krankengeschichte von jedem einzusehen, vorausgesetzt es existiert eine Behandlungsbeziehung zum Patienten. Missbräuche werden dabei mit Bussen oder dem augenblicklichen Entzug von Berufsausübungsbewilligungen streng bestraft. Es herrscht volle Transparenz, was bedeutet, dass jeder Bürger im Patientenportal sehen kann, welche Daten über ihn gesammelt worden sind und wer einen Blick auf welche Daten geworfen hat. Die Kontrolle über ENHIS und damit auch die Gesundheitsdaten liegt bei der öffentlichen Hand.

«Die Schweiz läuft Gefahr, diesen Zug zu verpassen und Privaten den sensiblen Raum unserer Gesundheitsdaten, der eigentlich unter staatlicher Kontrolle sein sollte, mangels funktionierenden Alternativen sang- und klanglos zu überlassen.»

Gemäss einer Studie der FMH (2019) wächst das Bedürfnis von Patientinnen und Patienten nach Autonomie in Behandlungs- und Entscheidungsprozessen und zu digitalen Gesundheitsdienstleistungen, dies vor allem bei den Millenials, sowie den Generationen X und Z. Diese Generationen sind immer mehr willens, ihre persönlichen Gesundheitsdaten in privaten Angeboten von Google, Amazon oder Well einzugeben und dann von KI-unterstützten Beratungs- und Dienstleistungsangeboten zu profitieren. Estland hat sein Gesundheitsnetzwerk ENHIS, den Zugang zu Gesundheitsdaten und solchen Dienstleistungen in staatlich kontrollierte Hände gelegt. Die Schweiz läuft Gefahr, diesen Zug zu verpassen und Privaten den sensiblen Raum unserer Gesundheitsdaten, der eigentlich unter staatlicher Kontrolle sein sollte, mangels funktionierenden Alternativen sang- und klanglos zu überlassen. Der Kanton Zürich hat kürzlich entschieden, die Verbreitung des EPD mit zusätzlichen finanziellen Anreizen zu fördern.
Peter Indra, Leiter Amt für Gesundheit des Kantons Zürich.

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