«Im Gesundheitswesen braucht es Visionen statt Pflästerlipolitik»

Andreas Kistler über wirtschaftliche Zwänge, sinnentleerte administrative Aufgaben und die Entstehung von immer mehr Tätigkeiten, die keinen direkten Nutzen für Patienten stiften.

, 11. August 2025 um 22:00
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In unserem Gesundheitswesen läuft vieles sehr gut. Hoch motivierte und gut ausgebildete Personen leisten täglich ausgezeichnete Arbeit. Die gesamte Bevölkerung hat Zugang zu einer qualitativ hochstehenden, rasch verfügbaren medizinischen Versorgung.
Nur hat unser Gesundheitswesen auch einen Preis, der stetig steigt und deshalb die Öffentlichkeit beschäftigt. Im öffentlichen Diskurs wird nach «Kostentreibern» und damit oft auch nach «Schuldigen» gesucht, in der Politik werden verschiedene Gegenmassnahmen propagiert und teils umgesetzt. Was ich dabei vermisse, sind zwei grundlegende Voraussetzungen für eine zielführende Problemlösung: Erstens eine fundierte und differenzierte Ursachenanalyse und zweitens den Mut, gross zu denken – also die grundlegende Architektur des Systems zu hinterfragen. In meinem Buch versuche ich unter anderem, Politikerinnen und Politiker mit den Werkzeugen für dieses Vorhaben auszustatten: dem nötigen Fachwissen, kritischen Analysen sowie Skizzen möglicher alternativer Modelle für ein Gesundheitswesen.
Denn die gegenwärtige «Pflästerlipolitik» besteht aus verschiedenen schlecht koordinierten Einzelmassnahmen, die vielfach nicht nur wirkungslos sind, sondern gar kontraproduktiv.
Andreas Kistler leitet seit 2018 als Chefarzt die Medizinische Klinik des Kantonsspitals Frauenfeld (Spital Thurgau AG). Er hat langjährige Erfahrung in medizinischer Grundlagen- und klinischer Forschung und lehrt an den Universitäten Zürich und St. Gallen. In diesen Rollen verfügt er über eine fundierte und differenzierte Innensicht auf das Schweizerische Gesundheitswesen.
Im Juni 2025 ist von ihm bei NZZ LIBRO das Buch ‹Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen - Wie das System zum Patienten wird› erschienen.

Problemanalyse: Weshalb steigen die Gesundheitskosten?

Die Faktoren, die zum Kostenwachstum im Gesundheitswesen beitragen, sind sehr komplex und vielschichtig. Ganz grob kann man sie in drei Kategorien einteilen:
Erstens gibt es externe Faktoren, die wir als gegeben akzeptieren müssen. Dazu gehören soziodemographische und gesellschaftliche Entwicklungen, aber auch makroökonomische Mechanismen wie der Wachstumszwang der kapitalistischen Gesamtwirtschaft und die Baumol'sche Kostenkrankheit.
«Der Kern des Gesundheitswesens entzieht sich einer marktwirtschaftlichen Organisation.»
Zweitens wird im Schweizerischen Gesundheitswesen paradoxerweise auf ein marktwirtschaftliches System vertraut, dem aber ganz wesentliche Freiheitsgrade fehlen und das deshalb dysfunktional ist. Ein öffentliches Gesundheitswesen lässt sich in seinen Grundzügen nicht marktwirtschaftlich organisieren – der Versuch, dies zu tun, führt unweigerlich zu Fehlanreizen.
In die dritte Kategorie schliesslich gehören alle unbedarften Versuche, den Faktoren in den anderen beiden Kategorien entgegenzuwirken: eine Vielzahl an Regulationen, Gesetzen und Auflagen. Wird ein neues Tarifsystem eingeführt, so müssen Spitäler sofort die finanziellen Auswirkungen prüfen, Optimierungspotential in der Abrechnung suchen, Controllerinnen beschäftigen; es entsteht ein wahres Wettrüsten zwischen Leistungserbringern und Garanten. Neue Qualitätsverträge bedingen entsprechende Konzepte. Es resultieren etliche Sitzungen und Qualitätsbeauftragte werden eingestellt. So entstehen im Gesundheitswesen immer mehr «Bullshit Jobs» – Tätigkeiten, die keinen direkten Nutzen für Patientinnen und Patienten stiften. Gleichzeitig wird immer mehr ärztliche Arbeitszeit durch sinnentleerte administrative Aufgaben absorbiert.
«Wir müssen uns mit immer mehr neuen Auflagen und Vorgaben herumschlagen, die per se keinen Nutzen stiften.»
Diese wachsende Bürokratisierung führt einerseits zu einer steigenden Ineffizienz des Systems: Ein immer grösserer Teil der aufgewendeten Arbeit kommt nicht direkt der Patientenbetreuung zu Gute. Andererseits führt sie aber auch zu einer Zweckentfremdung der Medizin. Unsere Arbeit wird zunehmend durch eine ökonomische Rationalität diktiert, die der Kernaufgabe des Gesundheitswesens nicht gerecht wird.

Rentabilität statt Wirksamkeit

Wir Chefärzte sind gezwungen, uns primär an der Rentabilität des Spitals zu orientieren anstatt an der medizinischen Wirksamkeit und sozialen Sinnhaftigkeit unserer Tätigkeit. Die Ökonomisierung und Bürokratisierung der Medizin führt zu einer zunehmenden Frustration des Gesundheitspersonals. So setzen wir eine zentrale Ressource aufs Spiel: die hohe intrinsische Motivation der Mitarbeitenden im Gesundheitswesen.
Man verstehe mich nicht falsch: Sinnvolle und effiziente Medizin braucht auch ökonomisches Denken. Schliesslich wollen wir aus unseren begrenzten Ressourcen das Maximum herausholen. Nur sollte die Ökonomie Mittel zum Zweck bleiben und nicht zum Selbstzweck werden, dem alles andere untergeordnet wird.
«Was wir brauchen, ist eine Vereinfachung und nicht eine weitere Verkomplizierung des Systems!»
Unser Gesundheitswesen steht vor einer Reihe grosser Herausforderungen und Fragen: Wie stellen wir künftig die Gesundheitsversorgung unserer älter werdenden Bevölkerung sicher? Wie nutzen wir künstliche Intelligenz sinnvoll in der Medizin – und welche Rolle gewähren wir dabei gewinnorientierten Tech-Firmen? Ist das Machbare immer auch sinnvoll? Wie stehen wir zu Eingriffen ins Erbgut des Menschen und wie zum Versuch, den natürlichen Alterungsprozess aufzuhalten? Wie verhindern wir eine wachsende soziale Ungleichheit in Hinblick auf die Gesundheit? Wie können wir sinnvolle präventive Massnahmen auf gesellschaftlicher Ebene umsetzen?
«Wesentliche Kernelemente der Medizin, nämlich die Fürsorge und die therapeutische Beziehung zu Patientinnen, drohen derweil abhanden zu kommen.»
Diesen Fragen sollten wir uns mit der nötigen Energie widmen und gestaltend auf die Zukunft des Gesundheitswesens einwirken können. Anstatt dass wir Gesundheitsfachpersonen aber mit unserem Fachwissen im gesellschaftlichen Dialog als Treiber wichtiger Entwicklungen mitwirken könnten, werden wir zu Getriebenen eines ökonomisch diktierten Systems. Wesentliche Kernelemente der Medizin, nämlich die Fürsorge und die therapeutische Beziehung zu Patientinnen, drohen derweil abhanden zu kommen.

Eine Vision für die Zukunft

Was wir brauchen, ist eine Vereinfachung und nicht eine weitere Verkomplizierung des Systems!
Im besten Fall wird in zehn Jahren die Finanzierung des Gesundheitswesens deutlich einfacher funktionieren (beispielsweise durch eine einzige Gesundheitskasse) und mühselige Briefwechsel mit den Krankenkassen der Vergangenheit angehören. Spitäler dürfen sich am medizinischen Bedarf und den vorhandenen Ressourcen orientieren anstatt mit optimiertem Leistungsportfolio und ausgereizter Abrechnungsstrategie ihre «Rentabilität» sicherstellen zu müssen.
Eine automatische zentrale Gesundheits-Datenbank erleichtert den Informationsaustausch und ermöglicht Forschung und Versorgungsplanung. Algorithmen werden uns in der Informationsbeschaffung und Datenverarbeitung unterstützen, sodass unsere heranwachsende motivierte Generation an Ärztinnen und Pflegefachpersonen mehr Zeit für die Interaktion mit Patientinnen haben wird.
Dieser Utopie steht allerdings eine ebenso realistische Dystopie gegenüber: Die steigenden Gesundheitskosten führen zu verschiedenen unkoordinierten Massnahmen, die es umzusetzen gilt. Immer detailliertere Qualitätsvorgaben, Mengenbegrenzungen und andere Auflagen erfordern ausufernde Datenerfassungen, die einen immensen administrativen Aufwand generieren. Immer mehr private Anbieter tummeln sich im Gesundheitsmarkt und schneiden sich ein Stück vom Kuchen ab, indem sie «Tools» verkaufen, um diesen steigenden Anforderungen gerecht zu werden, was natürlich zusätzliche Kosten generiert. Die Frustration der Mitarbeitenden im Gesundheitswesen steigt, immer mehr verlassen den Beruf und der Fachkräftemangel spitzt sich zu.
Wir sollten die kommenden Jahre also nutzen, um in Richtung der skizzierten Utopie zu steuern und weg von der Dystopie – wir haben die Wahl!
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