Wenn alle mitziehen würden: Die unterschätzte Blockade

Im Gesundheitswesen sprechen wir viel über Fachkräftemangel – aber zu wenig über die internen Hindernisse, die Engagement und Qualität lähmen.

Gastbeitrag von Alessia Schrepfer, 1. August 2025 um 23:00
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«Gezieltes Empowerment statt Micromanagement»: Autorin Alessia Schrepfer.
Zwischen den diversen Problemen im Gesundheitswesen gibt es einen Elefanten im Raum, über den wir kaum sprechen: Es ist nicht einfach der Mangel an Personal – es ist die stille Blockade, die entsteht, wenn nicht alle im Team ihr volles Potenzial ausschöpfen, sei es aus Unwillen oder Unvermögen. Dabei liegt es oft nicht am Willen, sondern an unklaren Abläufen, fehlender Unterstützung oder ungelösten Konflikten. Dieser Elefant bremst uns aus.
Wenn wir diese Blockade ignorieren, wird es teuer – und zwar für alle. Denn:
  • Top-Leute gehen: Die Engagierten fühlen sich ungerecht behandelt, wenn sie die Last anderer mittragen. Sie suchen sich andere Stellen, an denen die Arbeit fair verteilt wird. Das ist der grösste Verlust. Job-Hopping wird zur neuen Norm, denn eine Fluktuationsrate von 15 bis 20 Prozent ist im Gesundheitswesen keine Seltenheit.
Alessia Schrepfer ist ausgebildete FaGe sowie Dipl. Pflegefachfrau BSc FHO und hat einen Master in gerontologischer Pflege ZHAW. 2022 (mit-)gründete sie WeNurse, einen Freelance-Pool für Gesundheits- und insbesondere Pflege-Personal. Dafür wurde sie vom Swiss Economic Forum als «Young Entrepreneur of the Year» 2024 ausgezeichnet.
Das Ersetzen einer Fachkraft kostet dabei bis zum Doppelten des Jahresgehalts, im Durchschnitt sechs bis neun Monatsgehälter.
  • Stimmung kippt. Wenn die Probleme nicht gelöst werden, sinkt die Motivation im ganzen Team. Aus einst motivierten Gruppen werden Teams, die nur noch das Nötigste tun. Im schlimmsten Fall haben wir eine Team, das «innerlich gekündigt» hat.
  • Qualität leidet. Wo die klare Linie fehlt und nicht alle mitziehen, sinken Standards. Im Gesundheitswesen hat das direkte Folgen für Patienten und die Behandlungsqualität. Dies hat auch direkte finanzielle Auswirkungen: Studien zeigen, dass qualifizierte Pflege bis zu zwei Milliarden Franken an Gesundheitskosten einsparen könnte. Eine unzureichende Besetzung kann zudem das Sterberisiko für Patienten erhöhen und zu längeren Spitalaufenthalten führen, was Akutspitäler jährlich gegen 360 Millionen Franken kosten könnte. Auch in der Langzeitpflege gibt es ein Sparpotenzial von 1,5 Milliarden Franken, da etwa 40 Prozent der Spitaleinweisungen durch mehr qualifiziertes Pflegepersonal vermeidbar wären.
  • Versteckte Kosten durch Stress. Stress am Arbeitsplatz verursacht in der Schweiz jährlich Kosten von geschätzt 4.2 Milliarden Franken.
  • Stille Blockade. Jede und jeder im Team spürt diese Ungleichheit. Die ungesagte Wahrheit wird zur Bremse. Der Elefant im Raum ist nicht zwingend eine Person oder eine Gruppe, sondern die Blockade selbst – weil wir die Probleme nicht offen ansprechen und aktiv lösen.

Der Elefant im Raum: ein Führungs-Thema

Führung bedeutet, auch die unbequemen Wahrheiten anzusprechen und konsequent zu handeln. Oft ist der Elefant im Raum kein Team-Problem, sondern ein Führungsthema. Hier braucht es den grössten Mut zur Selbstreflexion: Bin ich selbst Teil der Blockade? Bin ich bereit, die nötigen Veränderungen an mir und in meinem Bereich vorzunehmen?
Echte Veränderung verlangt einen umfassenden Ansatz, der Probleme an der Wurzel packt. Man muss genau definieren, was von jedem Teammitglied und jeder Funktion erwartet wird. Klares Erwartungsmanagement und Kommunikation sind der erste Schritt zur Leistung.
Führung muss zudem die nötige Unterstützung bereitstellen. Das bedeutet:
  • gezieltes Empowerment statt Micromanagement;
  • die richtigen Tools und Ressourcen, um Fähigkeiten zu entwickeln und Probleme zu lösen.

Belastung fair verteilen

Dabei braucht es Zwischenziele. Und wenn sich dann trotz Unterstützung nichts ändert, muss man auch unbequeme, aber faire Entscheidungen treffen.
Führung hat die Verantwortung, die engagierten und hochleistenden Mitarbeitenden aktiv zu schützen. Das heisst, ein Umfeld zu schaffen, in dem Leistung gewürdigt wird, Belastung fair verteilt ist und toxische Elemente keinen Platz haben.
Das Gesundheitswesen kann es sich nicht länger leisten, den Elefanten im Raum zu ignorieren. Denn bereits bis 2030 fehlen allein in der Pflege über 30'000 Fachpersonen.
  • Fachkräftemangel
  • HR
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  • pflege
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