«Wollen wir leben oder einfach nur überleben?»

Mit 21 Jahren habe er den Obrigkeitsstaat verlassen, doch heute habe er das Gefühl, wieder genau dort zu sein, wo er schon mal war, sagt der 53-jährige Neurochirurg Lars Flöter.

, 6. Juli 2021 um 10:00
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Lars Flöter ist 15 Jahre alt, als seine Eltern 1983 einen Ausreiseantrag stellen. Die dreiköpfige Familie lebt in der Industriestadt Riesa, wo sich ein Stahlwerk befindet – mit 13 000 Beschäftigten ist es einer der grössten metallurgischen Betriebe der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Flöters Eltern gehören zu jenen, die Pech haben: Ihr Ausreiseantrag bleibt – wie so viele – unbeantwortet. «Wir gehörten zu den armen Schweinen, bei denen über Jahre nichts passierte», sagt Flöter heute. Freunde, Bekannte und Nachbarn hätten in die Bundesrepublik Deutschland (BRD) ausreisen dürfen. «An uns aber wollte das Regime ein Exempel statuieren.»
Da er sich nicht gegen seine Eltern gestellt habe, erzählt Flöter, habe man ihn von der Erweiterten Oberschule (Gymnasium) genommen. Nach dem Rauswurf arbeitet Lars – «zusammen mit sogenannten ‹Asozialen›, mit Trinkern und Straftätern, die resozialisiert wurden» – in einem Lebensmittellager als Lager- und Transportarbeiter. Nach einem Jahr findet er mit viel Glück und dank Beziehungen eine Lehrstelle als Elektriker. «Reine Zeitverschwendung», das habe er damals noch gedacht. «Ich wollte das Abitur machen und Medizin studieren.»

Sein Plan, seine Hoffnung: Republikflucht

Lars kniet sich dann doch in die Lehre und erhält sogar die Auszeichnung «bester Lehrling des Kreises». 1988 soll der 20-jährige Elektroinstallateur zur Armee eingezogen werden. Was zu dem Zeitpunkt völlig ungewöhnlich gewesen sei, erzählt Flöter, da er sich natürlich nicht für eine «freiwillige» Wehrdienstverlängerung verpflichtet habe. «Warum hätte ich mich motivieren sollen, das Land, in dem mich nichts mehr hielt, noch zu beschützen?», fragt er und stellt sogleich die nächste Frage: «Weshalb hätte ich in die Armee gehen sollen, in der man übte, wie man Handgranaten auf das Land – die BRD – warf, in welches ich mit meinen Eltern eigentlich ausreisen wollte?» Der 20-Jährige will den Wehrdienst verweigern, auch wenn ihm deshalb das Gefängnis droht. Doch hinter Gitter kommt er dann erst später.
«Ich überlegte mir, wie ich zum politischen Häftling mutieren konnte.» Als solcher gilt, wer in der DDR eine Straftat begeht, für die er in der BRD nicht verurteilt werden würde. Lars’ Plan, seine Hoffnung: Republikflucht – so würde er zum politischen Häftling werden und hätte die Chance, dass er von der BRD irgendwann freigekauft werden würde. Freunde, die der katholischen Kirche nahestehen, organisieren für ihn Kontakte in Ungarn, die sich mit der Grenzsicherung auskennen. In einem Sumpfgebiet in Südungarn findet Lars schliesslich eine Lücke. «Viele Stunden später, in denen mir die Kugeln um die Ohren pfiffen, stand ich auf jugoslawischem Boden.» Wegen des illegalen Grenzübertritts sitzt er dann in Subotica noch zwei Wochen im Gefängnis. Danach wird er in Belgrad an die UNO übergeben: «Diese Leute haben mich gefragt, wo ich hin möchte.» Von da an habe er als Bundesbürger gegolten. Lars wird zunächst in der BRD von einem Cousin seines Vaters aufgenommen – ein Jahr später fällt die Berliner Mauer.

1997 zum ersten Mal in der Schweiz

«In der BRD wurde man als Held willkommen geheissen – heute gibt man sich Mühe, die DDR auferstehen zu lassen», sagt Flöter. Mit 21 Jahren habe er den Obrigkeitsstaat verlassen, doch heute mit 53 Jahren habe er das Gefühl, wieder genau dort zu sein, wo er schon mal war. Nur sei jetzt alles subtiler, findet der Facharzt Neurochirurgie, der als selbständiger Belegarzt in der Privatklinik Lindberg in Winterthur und am Kantonsspital Uri arbeitet. Flöter reiste 1997 zum ersten Mal als Unterassistent in die Schweiz, seit 1999 hat er das Land zu seiner Heimat gemacht. Seine Ausbildung zum Facharzt für Neurochirurgie hat er ebenfalls hier absolviert. Seit 2018 ist er Schweizer Staatsbürger.
Flöter erinnert sich an den 12. März 2020, als die Weltgesundheitsorganisation die Pandemie ausgerufen hat: «Natürlich habe auch ich zu Beginn Angst gehabt. Die Bilder aus Wuhan und Bergamo konnte auch ich damals nicht richtig einordnen.» Als seine Eltern wegen der plötzlich verhängten Reiseeinschränkungen in Flüelen mit dem Wohnmobil strandeten, hätten alle strikt die Corona-Regeln befolgt; seine Partnerin sowie seine 3-jährige Tochter hätten im einen, seine Eltern im anderen Teil des Hauses gewohnt. Er selbst habe vorübergehend, vor allem auch aus Rücksicht gegenüber seinen Patienten, im Dachgeschoss gehaust.
«Ich bin da, wenn ihr mich braucht», habe er damals zum Spitaldirektor des Kantonsspitals Uri gesagt. Um vor Ort zu sein, habe er vorgeschlagen, das Wohnmobil seiner Eltern auf das Spitalgelände zu stellen und dort zu hausen. «Ich war hochmotiviert, pflichtbewusst und wäre bereit gewesen, mein Leben für meine Patienten zu geben.» Doch das Spital habe sich geleert, Kollegen seien nur noch einmal pro Woche erschienen, während er krampfhaft versucht habe, sein Arbeitsleben am Laufen zu halten und seine Kosten zu bestreiten. Patienten hätten ihm in Textnachrichten für seinen Einsatz gedankt. «Das konnte ich nicht annehmen, denn es war ja ganz und gar nicht so, dass ich unter der Arbeitslast zusammenbrach.»

Personal Zuhause, Rekruten im OP-Saal

Flöter erzählt von seinen Erlebnissen während der Corona-Pandemie. Während erfahrenes Personal in Kurzarbeit geschickt worden sei, seien Rekruten eingesetzt worden, die teilweise das erste Mal einen Operationssaal von innen gesehen hätten. «Damit wollte man der Gesellschaft signalisieren: Es ist so schlimm.» Die anfänglichen Sorgen des Arztes weichen dem Zweifel: Er beginnt das düstere Bild, das Medien, Politik und Wissenschaft zeichneten und noch immer zeichnen, infrage zu stellen.
Es sei doch völlig unlogisch, findet der Arzt, dass die Anzahl Intensivbetten in der Schweiz signifikant zurückgegangen sei, obwohl die Intensivstationen angeblich überlastet gewesen seien. Seit Beginn der Pandemie wären an seinen Arbeitsorten nie mehr als drei Covid-Patienten gleichzeitig intubiert gewesen, dabei habe man sich noch mit dem Aufbau von zwölf Beatmungsplätzen geschmückt – zu einer Zeit, als dieser Aspekt gerade en vogue gewesen sei. «Wir sind nicht von Covid-Patienten überrollt worden», so Flöter.
Er sei der Letzte, der auf seiner Meinung beharre. Bringe ihm jemand klare Argumente und stelle nicht nur reine Behauptungen auf, würde er seine Meinung jederzeit revidieren. Wenn Statistiken und Zahlen aber verdreht würden, habe er damit ein Problem. «Ich möchte, dass man die Angelegenheit ehrlich diskutiert», sagt der 53-Jährige. Er kenne viele Ärzte, mit denen er privat vernünftige Diskussionen über Corona führen könne. Nur sei es so, dass diese, wenn sie den Medien ein Interview geben dürften oder in eine Talkshow eingeladen würden, sich dann wie ein Fähnchen im Wind drehten. «Ego-Polishing ist nichts für mich – ich bin ein Wahrheitssuchender, der sich durch die eigene Biographie unbequemen Leuten näher fühlt als denen, die mit dem Strom schwimmen, um Szenenapplaus zu erhaschen.»

«Ich bin nur ein kleines Licht, das Fragen stellt»

Flöter sagt, was er denkt und bleibt sich somit selbst treu. Lieber eckt er an, als auf der Mainstream-Welle zu surfen. Seine Äusserungen sind mal scharfzüngig, mal sarkastisch, aber nie deplatziert, geschweige denn niveaulos – auch wenn seine Neider das einem weismachen wollen. «Ich bin nur ein kleines Licht, das Fragen stellt, aber weiss, dass zwei und zwei nicht fünf gibt», sagt der Neurochirurg. Er sei nicht auf dem Niveau eines Christian Drosten oder eines Beda Stadler, er habe keinerlei Interesse an der öffentlichen Bühne, dennoch habe er ein breites Hintergrundwissen und einen reichen Erfahrungsschatz.
Er sei stets fleissig gewesen und habe nichts dem Zufall überlassen, betont der 53-Jährige, der auf zweitem Bildungsweg 1990 – «nach nur zwei Jahren im Westen» – sein Abitur absolvierte und von 1990 bis 1997 an der Justus-Liebig-Universität Giessen Medizin studierte. Flöter, der ein «Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes» erhielt, promovierte in Humangenetik. «DNA-Sequenzierung, rekombinante DNA-Technik, PCR: Damit habe ich mich viereinhalb Jahre intensiv befasst.» Wenn er heute aber sehe, wie der PCR-Test, der kleinste Mengen an Genmaterial nachweise, eingesetzt werde, dann werde es ihm wind und weh. Wenn er dies, selbst im kleinen Kreis, thematisiere, werde er wie ein Idiot weggebügelt – «und das von Leuten, die noch kein einziges Mal einen Thermocycler bedient haben».
Er habe viele Fragen und versuche schon lange, darauf Antworten zu bekommen, sagt der Arzt. Unter anderem habe er beim Amt für Gesundheit in Uri seine Fragen deponieren wollen, nachdem man dort auf der Homepage ausdrücklich Dialogbereitschaft signalisiert habe. «Es ging dabei ausschliesslich um Fragen, zu denen ich mit meiner Dissertation einen fachlich fundierten Zugang hatte. Am Ende kamen keine Antworten, sondern die unmissverständliche Aufforderung die ‹Unruhestiftung› zu unterlassen und der Hinweis, dass man auch anders könne.» Wer hinterfrage, werde ins Abseits gekickt. Wer aber seine Seite der Argumentation mit solchen Methoden verteidigen müsse und seine Richtung durchboxe, der könne nicht Recht haben, sagt Flöter und verweist auf seine DDR-Erfahrungen.
Flöter sympathisiert mit dem «Aktionsbündnis der Urkantone» – einer Gruppe, die sich nach eigenen Angaben kritisch mit der Corona-Politik auseinandersetzt. Die Gruppe habe mehrfach zahlreiche Politiker und Fachleute zu Diskussionsveranstaltungen eingeladen, Interesse gezeigt habe aber nie jemand. «Dialog ist offensichtlich nicht erwünscht.»

«Einen Sicherheitskäfig für jeden wird es nie geben»

Auch beim Thema Covid-19-Impfung würden kritische Fragen einfach übergangen, wer sich nicht impfen lassen wolle, gelte als unsolidarisch. «Unserem Immunsystem wird so wenig zugetraut, aber der Impfung, die aufgrund genetischer Daten eines Wildtyps, der wahrscheinlich so gar nicht mehr vorhanden ist, entwickelt wurde, die soll jetzt unser Strohhalm sein, an dem das Überleben der Menschheit dranhängt…? Das ist doch eine Posse!» Die Covid-19-Impfstoff-Studien, mit denen er sich eingehend beschäftigt habe, seien für ihn nicht überzeugend. «Ich kann eine relative von einer absoluten Risikoreduktion unterscheiden; solche Hütchenspielertricks durchschaue ich.» Tatsache sei für ihn, dass es keine Studie gäbe, die klar zeige, dass die Covid-19-Impfung eine Übertragung verhindere. «Niemand, den ich kenne, lässt sich aus Überzeugung impfen, viele wollen dadurch einfach nur ihre Freiheiten wieder bekommen.»
Flöter sagt: «Meine Freiheit endet dort, wo die Rechte der anderen beginnen. Damit kann ich leben. Aber sie endet nicht dort, wo die Ängste der anderen beginnen.» Er fragt: «Wollen wir uns jetzt wirklich zu Sklaven unserer Ängste machen?» Eine gewisse Endlichkeit müsse jeder in Kauf nehmen. «Einen Sicherheitskäfig für jeden wird es nie geben; ich kann nicht im Winter mit dem Motorrad zum Operationssaal fahren und im Sommer Kitesurfen gehen und dann meine Lebensrisiken beim Staat im Tausch gegen meine Freiheit abgeben.»
Unsere Gesellschaft thematisiere den Tod der 90-jährigen Oma, die im Pflegeheim an oder mit Corona gestorben sei, doch etliche andere Geschichten blieben unerzählt. Wenn eine selbständig erwerbende Mutter in seinem Patientenkreis, die nie jemandem auf der Tasche gelegen habe, nun zum Sozialamt gehen müsse, weil sie für ihre Kinder nur noch zwei abgelaufene Joghurtbecher im Kühlschrank habe, dann breche einem doch das Herz, sagt der Arzt.

Die Suche nach Antworten geht weiter

Flöter fragt: «Gibt’s nun dreimal im Jahr ein Mutanten-Tuning für unser Immunsystem? Wo endet dies alles? Wollen wir leben oder einfach nur überleben?» Er könne nicht zurück an den Anfang der Pandemie, sagt der ehemalige DDR-Bürger, denn er wisse, wie dieser Selbstbetrug ausgehe. «Es gibt kein Happy End, es endet so wie überall, wo man die Realität einfach durch Narrative und Potemkinsche Dörfer ersetzt: Die Realität wird sich immer durchsetzen.» Er möchte nicht, dass seine 3-jährige Tochter Ähnliches erleben müsse wie er in seiner Jugend. «Darum: Wehret den Anfängen!»
Flöter lässt sich nicht canceln. Er hört nicht auf zu hinterfragen, sucht weiter nach Antworten, nach der Wahrheit. «Ich wurde verhöhnt, damals in der DDR, aber 1989 kam doch – ich habe die Hoffnung, dass es auch diesmal noch gut kommt.»   
Weil Lars Flöter auf LinkedIn die sterile Atmosphäre im Impfzentrum in der Messe Zürich kritisierte, wurde ein medialer Shitstorm losgetreten. Das Kantonsspital Uri nahm das zum Anlass, dem Belegarzt wegen seiner privaten Äusserungen nach fast zehn Jahren den Zusammenarbeitsvertrag per 31. Dezember 2021 zu kündigen. Flöter wehrt sich seither juristisch. Mittlerweile musste unter anderem CH Media, die TX Group und Radio Central die entsprechende Berichterstattung löschen oder korrigieren. 

Artikelserie

Unaufdringlich, direkt, rebellisch – so verschieden sie auch sind, eines eint sie: Sie schwimmen gegen den Strom. Medinside porträtiert drei Ärzte, deren Ansichten zu Corona von der gängigen, standespolitischen Meinung abweichen. Sie erzählen, wie sie zu ihren Ansichten kommen, was sie in diesen aussergewöhnlichen Zeiten bewegt, und werfen relevante Fragen auf.
Teil 1: «Wir sind für die Gemeinschaft geschaffen» 
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