Kostenexplosion und Versorgungslücken: Das droht der Schweiz in der ambulanten Pflege bis 2035. Zumindest falls sie ihre Politik nicht grundsätzlich ändert.
Um das aufgezeigte Problem unter Kontrolle zu kriegen, müsse etwas geschehen bei der Finanzierung, beim Marktzugang sowie bei der Wahlfreiheit für die betroffenen Menschen.
Mehr Patienten mit mehreren Krankheiten
Was steckt dahinter? Wachstum und Alterung der Bevölkerung sowie steigende Ansprüche treiben den Bedarf an Pflegeleistungen jährlich nach oben. Gesundheitsökonom Stefan Felder extrapoliert nun, dass die Pflegebedürftigkeit bis 2035 um 57 Prozent zunehmen werde.
Greifbar wird dabei insbesondere eine Versorgungslücke in der ambulanten Pflege – dies nicht nur, weil es mehr Bedürftige geben wird, sondern auch, weil in einer älteren Bevölkerung mehr Pflegebedürftige gleich an mehreren Krankheiten leiden. Hinzu kommen steigende Ansprüche.
Klar wird: Die Nachfrage nach professionellen Pflege- und Betreuungsleistungen wird steigen – unwiderruflich.
Von 10 auf 30 Milliarden
Laut der Studie werden die Kosten insbesondere im stationären Bereich weiter klettern. Die jährlichen Pflegeausgaben werden sich bis 2035 fast verdreifachen – von derzeit 10,9 Milliarden auf 30,2 Milliarden Franken.
Zwar bremst die Pflege zu Hause die Pflegekosten eher. Doch auch die Kosten für die ambulante Pflege dürften sich bis 2035 fast verdreifachen. Denn eine gewisse Wirkung hat hier zum Beispiel der Trend zum Einpersonen-Haushalt. Allerdings erwarten die Studien-Autoren auch grosse kantonale Unterschiede: Mit dem steilsten Anstieg müsse Nidwalden rechnen, den geringsten Zuwachs dürfe Basel-Stadt erwarten.
Dabei stellen Stefan Felder und sein Team fest, dass in der Schweiz relativ wenige Pflegepatienten zu Hause versorgt werden. Und im internationalen Vergleich ist der Anteil der ambulanten Pflegeausgaben mit 12 Prozent auch sehr tief; in Deutschland beispielsweise beträgt die Quote 34 Prozent.
Bei den Anbietern ist das Angebot andererseits eingegrenzt. Oder anders: Die Übermacht der öffentlich-gemeinnützigen Spitex ist sehr gross. Im Bereich der ambulanten Spitex sind nur 18 Prozent der Anbieter privat-organisiert. Für die Gesundheitsökonomen ist dies ein Hinweis darauf, dass es in der Schweiz allzu grosse Hürden gibt für einen Markteintritt.
Ist es eine verpasste Spar-Chance?
Dabei wären private Anbieter oft effizienter, meint der Privat-Spitex-Verband ASPS. Hier scheint sich also eine verpasste Spar-Chance zu eröffnen – eine Chance, die angesichts der stetig wachsenden Kosten jetzt langsam ergriffen werden sollte.
«Heute besteht eine krasse rechtliche Ungleichheit zwischen der so genannten öffentlich-gemeinnützigen Spitex und der privat-erwerbswirtschaftlichen Spitex»,
sagte Rudolf Joder, der Präsident der ASPS, bei der Präsentation der Daten: «Die privat-erwerbswirtschaftliche Spitex wird im Gesetz benachteiligt sowie diskriminiert, und ihr Marktzutritt wird erschwert.»
Mehr Wahlfreiheit
Als augenfälliges Beispiel nannte
Nationalrat Joder (SVP) die ungleiche Mehrwertsteuer-Behandlung bei den Leistungen der Betreuung und Hilfe im Haushalt.
Die finanzielle Belastung der öffentlichen Hand könne nur mit einem Systemwechsel gesenkt werden. Aber was heisst das konkret?
Gegen die drohende Versorgungslücke und Kostenexplosion empfiehlt die Studie aus Basel eine Reform der Langzeitpflege mit vier Elementen:
- Subjekt- statt Objektfinanzierung: Künftig sollen ausschliesslich die erbrachten Pflegeleistungen vergütet und keine Institutionen mehr subventioniert werden. Damit werden nur Pflegeleistungen finanziert, und die Patienten haben bei den Anbietern die freie Wahl.
- Pauschalvergütungen gemäss Leistungskatalog: Ähnlich wie in der ambulanten (Ärzte-Tarmed) und der akutstationären Medizin (Spital-SwissDRG) sollen auch bei der Spitex Pflegeleistungen zusammengefasst und aufwandgerecht mit Pauschalen vergütet werden. Dies führe zu höherem Kostenbewusstsein.
- Freier Wettbewerb aufgrund von Preis und Qualität: Die geforderte Finanzierung über Leistungen erlaube es den Betroffenen, ihren Spitex-Anbieter frei zu wählen – ob öffentlich-gemeinnützig oder privat-erwerbswirtschaftlich. Der damit verbundene Wettbewerb führe dazu, dass jene Spitex-Organisationen im Markt verbleiben, die ein umfassendes, gutes und günstiges Pflegeangebot bieten.
- Vollangebot aus einer Hand: Die ambulanten Leistungserbringer müssten flexibel und rasch auf die sich ändernde Nachfrage reagieren und eine breite Palette an Dienstleistungen aus einer Hand anbieten können. Vor allem aber müsse das Pflegeangebot mit Betreuungsleistungen ergänzt werden.