Unfall. Sehnenriss. Operation. Der Unfallversicherer verweigert Übernahme der Operationskosten mit dem Verweis, dass der gesundheitliche Schaden degenerativer und nicht traumatischer Natur sei. Dies im Staccato, was sich in der Schweiz Jahr für Jahr hundertfach abspielt.
In den meisten Fällen macht das Unfallopfer die Faust im Sack und lässt die Operationskosten von der Krankenkasse bezahlen. Das heisst, dass Franchise und Selbstbehalt an ihm hängen bleiben. Lieber nimmt man diese überschaubaren Kosten in Kauf, statt den beschwerlichen juristischen Weg zu beschreiten.
Andreas Tschachtli, Gemüsebauer aus Kerzers, gehört zu jenen Ausnahmen, die vor dem juristischen Weg nicht zurückschreckten. Ihm ist ein hundert Kilo schwerer Ventilator auf die Schulter gefallen, als er diesen montieren wollte.
Überwiegend wahrscheinlich - wie soll er das wissen?
Doch Jürg Bichsel, der von Giubiasco aus als beratender Arzt für Unfallversicherungen Gutachten schreibt, behauptete, der Sehnenriss sei «überwiegend wahrscheinlich» auf degenerative Veränderungen zurückzuführen.
Der Chiropraktor Jean-Pierre Cordey weiss es besser. Er hat den verunfallten Andreas Tschachtli als erster untersucht und ihn dem Orthopäden überwiesen. Es könne nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, dass die RM-Läsion im Fall Tschachtli degenerativer Kausalität sein sollte, schrieb er in seinem Rapport. (Medinside berichtete darüber
hier).
Hausärzte sind befangen
Aussage gegen Aussage. Bemerkenswert ist folgender Satz aus dem Gerichtsurteil vom 1. Mai 2020: «In Bezug auf Berichte von Hausärzten darf und soll der Richter der Erfahrungstatsache Rechnung tragen, dass Hausärzte mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung in Zweifelsfällen eher zugunsten ihrer Patienten aussagen.»
Und der beratende Arzt? Wird er nicht etwa zugunsten seines Auftraggebers urteilen? «Wes Brot ich ess, des Lied ich sing».
Beratende Ärzte sind nicht befangen
Die rhetorische Frage ist mit Nein zu beantworten. In einem wegweisenden Urteil vom 14. Juni 1999 schreiben die Bundesrichter: «Die Tatsache allein, dass der befragte Arzt in einem Anstellungsverhältnis zum Versicherungsträger steht, lässt nicht schon auf mangelnde Objektivität und auf Befangenheit schliessen.»
Das bestätigt auch Ueli Kieser, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität St. Gallen. «Es entspricht der Praxis des Bundesgerichts, den Versicherungsärzten eine höhere Glaubwürdigkeit zu attestieren als den Hausärzten.»
Christian Haag: «Die UVG-Versicherer beauftragen immer die gleichen Schreibtischärzte.»
Christian Haag von der Anwaltskanzlei «Häfliger Haag Häfliger» in Luzern ist Fachanwalt SAV Haftplicht- und Versicherungsrecht. «Diese Praxis ist einseitig und versicherungsfreundlich», sagt er. Stossend sei nicht nur, dass die Unfallversicherer dafür immer wieder die eigenen, gekauften Vertrauensärzte mit immer denselben Aktenbeurteilungen beauftragten, welche sich dabei gutes Geld verdienten, das erst noch prämienfinanziert sei.
Noch ärgerlich sei es, so Haag weiter, dass das Bundesgericht solche Ärzte der UVG-Versicherer in ständiger Praxis als «neutral und unabhängig» taxiere. «Sie haben tendenziell mehr Beweiskraft als Berichte behandelnder Fachärzte.»
.... immer die gleichen Schreibtischärzte
Wie Haag in seiner Tätigkeit beobachten kann, beauftragen die UVG-Versicherer die immer gleichen Schreibtischärzte, die den ganzen Tag mehrseitige Aktenbeurteilungen schreiben, wieso Schulter- oder Kniebeschwerden nach einem Unfall nicht die Folge des Unfalls seien.
Dies selbst bei Fällen, in denen:
· der Verunfallte bis zum Unfall komplett beschwerdefrei war
· voll arbeitsfähig und belastbar
· aktiv in Sport und Freizeit
· die Beschwerden zeitnah zum Unfall auftraten
· der Unfallmechanismus zu den Beschwerden passt
· der Operateur / Facharzt Unfallkausalität bestätigt
· im UVG Teilkausalität genügt
Man könne nur hoffen, versucht Christian Haag zu trösten, dass der Versicherte eine Rechtsschutzversicherung hat, die eine gut begründete Gegenmeinung finanziere. «Und wenn ein kantonales Versicherungsgericht den Aufwand nicht scheut, die Bundesgerichtspraxis kritisch beurteilt und ein neutrales Gerichtsgutachten in Auftrag gibt, geschehen manchmal Wunder, und der Wisch des beratenden Arztes erweist sich als Humbug.»
BGE 125 V 351: Bundesgerichtsentscheid vom 14. Juni 1999
Auszug aus dem wegweisenden Urteil vom 14. Juni 1999: «Beweiswert des Berichtes eines Vertrauens- bzw. Versicherungsarztes: Auch den Berichten und Gutachten versicherungsinterner Ärzte kommt schliesslich Beweiswert zu, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet sowie in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit bestehen. Die Tatsache allein, dass der befragte Arzt in einem Anstellungsverhältnis zum Versicherungsträger steht, lässt nicht schon auf mangelnde Objektivität und auf Befangenheit schliessen. Es bedarf vielmehr besonderer Umstände, welche das Misstrauen in die Unparteilichkeit der Beurteilung objektiv als begründet erscheinen lassen.»