Die Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Clienia in Littenheid will ab kommendem Januar wieder Patienten mit dissoziativen Identitätsstörungen – kurz DIS genannt – aufnehmen. Zu diesem Zweck arbeitet sie schonungslos auf, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist.
Verschwörungstheorien gang und gäbe
Ein externer Gutachter hat 422 Akten von Patienten mit DIS überprüft und ist zu folgendem Resultat gekommen: Bei 43 wurden «gravierende» Hinweise auf Verschwörungserzählungen festgestellt, bei weiteren 188 zumindest angedeutete Hinweise.
Das heisst, dass Verschwörungserzählungen auf den Traumastationen keine Ausnahmefälle waren.
Was an der Klinik geschah
Dass die Klinik mit solchen Behandlungen arbeitete, gelangte 2021 an die Öffentlichkeit. Ein Oberarzt, damals Traumatherapeut in Littenheid, erzählte in einer Fernsehsendung über Satanismus freimütig von angeblichem rituellem Missbrauch.
Es gebe eine «Parallelwelt, die sich extrem gut zu schützen weiss», sagte er und sprach von Foltermethoden und anderen Gräueltaten.
Patienten nicht direkt geschädigt
Der Kanton Thurgau schritt ein und verfügte im Dezember 2022 Massnahmen. «Bei deren Umsetzung ist die Klinik gut vorangeschritten, aber noch nicht am Ziel», stellt die zuständige Stelle nun fest.
Das Gutachten geht davon aus, dass keine Patienten direkt geschädigt oder gegen deren Willen behandelt worden seien.
Nur noch wissenschaftliche Behandlungen
Die Klinik überarbeitet derzeit ihre Traumatherapie und schult die Angestellten. So will sie nach eigenen Angaben das Vertrauen wieder herstellen und ab nächstem Jahr «evidenzbasierte bestmögliche Traumatherapien» einführen. Der Kanton wird die Klinik weiterhin prüfen.
Wie konnten die Behandlungen in Littenheid aber überhaupt dermassen aus dem Ruder laufen? Die Privatklinik hat eine 125-jährigen Geschichte und gehört seit 2008 zur Clienia-Gruppe, die mit 1680 Mitarbeitenden die grösste private Anbieterin von psychiatrischen Dienstleistungen in der Schweiz ist.
DIS ist «hip und überdiagnostiziert»
In der «Thurgauer Zeitung» sagte der Gerichtspsychiater Frank Urbaniok, dass die Behandlung von DIS besonders anfällig für Verschwörungstheorien sei.
«Wenn der Therapeut seiner Patientin erzählt, sie habe Persönlichkeitsanteile, von denen sie nichts weiss, ist es für ihn umso einfacher, ihr seine Überzeugungen überzustülpen.» Gleichzeitig kritisiert Urbaniok aber auch, dass DIS derzeit «hip und gnadenlos überdiagnostiziert» sei.
Gibt es die Diagnose DIS überhaupt?
Einst habe er gedacht, dass sie in seltenen Fällen als Überlebensmechanismus bei Traumata vorkomme. Mittlerweile frage er sich aber, ob es die DIS als Diagnose überhaupt geben sollte.
Die Begründung: Er kenne keine richtig diagnostizierte DIS. «Ich habe selbst Patientinnen und Patienten, die rückblickend sagen, sie hätten sich etwas einreden lassen.» Für ihn gebe es immer mehr Hinweise, «dass das Konstrukt problematisch und erfunden ist.»
Glaubte der Clienia-Arzt an Verschwörung?
Auf die Frage, ob Therapeuten tatsächlich an Verschwörungstheorien glauben, antwortete Urbaniok: «Der Oberarzt, der in Littenheid entlassen wurde, hat sich damit offensichtlich identifiziert. Ich unterstelle ihm deshalb nicht, dass er bewusst etwas Falsches vertreten hat – was die Sache aber nicht weniger problematisch macht.»