230 Mal Hinweise auf Verschwörungserzählungen

Die psychiatrische Klinik Clienia arbeitet ihre Fehler auf. Es zeigt sich: Die Therapie mit Verschwörungserzählungen war gang und gäbe.

, 13. September 2023 um 11:24
image
In dieser idyllischen Umgebung gediehen satanistische Verschwörungstheorien: Die Clienia-Klinik in Littenheid TG. | SRF
Die Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Clienia in Littenheid will ab kommendem Januar wieder Patienten mit dissoziativen Identitätsstörungen – kurz DIS genannt – aufnehmen. Zu diesem Zweck arbeitet sie schonungslos auf, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist.

Verschwörungstheorien gang und gäbe

Ein externer Gutachter hat 422 Akten von Patienten mit DIS überprüft und ist zu folgendem Resultat gekommen: Bei 43 wurden «gravierende» Hinweise auf Verschwörungserzählungen festgestellt, bei weiteren 188 zumindest angedeutete Hinweise.
Das heisst, dass Verschwörungserzählungen auf den Traumastationen keine Ausnahmefälle waren.

Was an der Klinik geschah

Dass die Klinik mit solchen Behandlungen arbeitete, gelangte 2021 an die Öffentlichkeit. Ein Oberarzt, damals Traumatherapeut in Littenheid, erzählte in einer Fernsehsendung über Satanismus freimütig von angeblichem rituellem Missbrauch.
Es gebe eine «Parallelwelt, die sich extrem gut zu schützen weiss», sagte er und sprach von Foltermethoden und anderen Gräueltaten.

Patienten nicht direkt geschädigt

Der Kanton Thurgau schritt ein und verfügte im Dezember 2022 Massnahmen. «Bei deren Umsetzung ist die Klinik gut vorangeschritten, aber noch nicht am Ziel», stellt die zuständige Stelle nun fest.
Das Gutachten geht davon aus, dass keine Patienten direkt geschädigt oder gegen deren Willen behandelt worden seien.

Nur noch wissenschaftliche Behandlungen

Die Klinik überarbeitet derzeit ihre Traumatherapie und schult die Angestellten. So will sie nach eigenen Angaben das Vertrauen wieder herstellen und ab nächstem Jahr «evidenzbasierte bestmögliche Traumatherapien» einführen. Der Kanton wird die Klinik weiterhin prüfen.
Wie konnten die Behandlungen in Littenheid aber überhaupt dermassen aus dem Ruder laufen? Die Privatklinik hat eine 125-jährigen Geschichte und gehört seit 2008 zur Clienia-Gruppe, die mit 1680 Mitarbeitenden die grösste private Anbieterin von psychiatrischen Dienstleistungen in der Schweiz ist.

DIS ist «hip und überdiagnostiziert»

In der «Thurgauer Zeitung» sagte der Gerichtspsychiater Frank Urbaniok, dass die Behandlung von DIS besonders anfällig für Verschwörungstheorien sei.
«Wenn der Therapeut seiner Patientin erzählt, sie habe Persönlichkeitsanteile, von denen sie nichts weiss, ist es für ihn umso einfacher, ihr seine Überzeugungen überzustülpen.» Gleichzeitig kritisiert Urbaniok aber auch, dass DIS derzeit «hip und gnadenlos überdiagnostiziert» sei.

Gibt es die Diagnose DIS überhaupt?

Einst habe er gedacht, dass sie in seltenen Fällen als Überlebensmechanismus bei Traumata vorkomme. Mittlerweile frage er sich aber, ob es die DIS als Diagnose überhaupt geben sollte.
Die Begründung: Er kenne keine richtig diagnostizierte DIS. «Ich habe selbst Patientinnen und Patienten, die rückblickend sagen, sie hätten sich etwas einreden lassen.» Für ihn gebe es immer mehr Hinweise, «dass das Konstrukt problematisch und erfunden ist.»

Glaubte der Clienia-Arzt an Verschwörung?

Auf die Frage, ob Therapeuten tatsächlich an Verschwörungstheorien glauben, antwortete Urbaniok: «Der Oberarzt, der in Littenheid entlassen wurde, hat sich damit offensichtlich identifiziert. Ich unterstelle ihm deshalb nicht, dass er bewusst etwas Falsches vertreten hat – was die Sache aber nicht weniger problematisch macht.»
  • ärzte
  • clienia
  • psychiatrie
Artikel teilen

Loading

Kommentar

Mehr zum Thema

image

Privatklinik Hohenegg: Adrian Gehri wird CEO

Der ehemalige Spital-STS-Manager folgt im Mai 2025 auf Walter Denzler.

image

PDGR: Drei neue Chefärzte und eine Neuausrichtung in der Psychiatrie

Die Psychiatrischen Dienste Graubünden haben ein neues Konzept und besetzen zentrale Leitungspositionen in der Erwachsenenpsychiatrie neu.

image

Ein «Curriculum» für junge Hausärztinnen und Hausärzte

Das Spital Bülach hat eine Lösung gegen den Hausärztemangel: Es bildet Ärzte und Ärztinnen speziell fürs Zürcher Unterland aus.

image

Neuer Präsident der Gesellschaft für Dysphagie

Bartosz Bujan von der Klinik Lengg wird Nachfolger von Jörg E. Bohlender

image

Darum ist der Kanton Uri für junge Ärzte interessant

Lange war Uri bei der Ärztedichte das Schlusslicht. Heute zieht es immer mehr junge Ärzte in den Innerschweizer Kanton - dank verschiedenen Förderinitiativen.

image

In Deutschland droht der nächste Ärzte-Streik

60'000 Spitalärzte prüfen den Ausstand. Womit die Streikwelle in Europas Gesundheitswesen bald den nächsten Höhepunkt erreichen könnte.

Vom gleichen Autor

image

«Hausarzt ist kein Beruf, den man subventionieren muss»

Ein Arzt macht vor, wie eine Berggemeinde zu medizinischer Versorgung kommt. Und er kritisiert Kollegen, die einfach ihre Praxis schliessen.

image

Pflegefachleute verschreiben so sachkundig wie Ärzte

Das dürfte das Pflegepersonal freuen: Es stellt laut einer US-Studie genauso kompetent Arzneimittel-Rezepte aus wie Ärzte.

image

Temporär-Arbeit in der Pflege: Ein Angebot mit Haken

Es gibt gute Gründe für Pflegefachleute, sich nur noch temporär anstellen zu lassen. Aber es gibt auch ein paar gute Argumente dagegen.