Ist die Angehörigenpflege Fluch oder Segen für das schweizerische Gesundheitswesen? Im Lichte des Pflegemangels ist der Einsatz von pflegenden Angehörigen sinnvoll. Andererseits braucht es klare Regelungen, sonst drohen die prämienrelevanten Kosten erheblich und unkontrolliert zu steigen. Und es droht durch die Vermischung mit den Spitexkosten der falsche Eindruck eines Kostenanstieges dort.
Im Rahmen eines
Gutachtens im Auftrag der Association Spitex privée Suisse (ASPS) habe ich mich zu diesem Thema geäussert. Seit einem Grundsatzentscheid des Bundesgerichts vom April 2019 ist die Pflege durch Angehörige via Obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) zu vergüten. Und darüber hinaus muss seit einem Urteil des Bundesgerichts vom Mai 2024 sogar psychische Betreuungsarbeit entschädigt werden, dies selbst bei fehlender Diagnose. In Rechnung gestellt wurden in diesem Fall 9,3 Stunden pro Tag an sieben Tagen pro Woche.
Das Urteil befasste sich nicht mit der Frage der Angemessenheit der geforderten Zahlungen in Bezug auf Höhe und Dauer im Lichte von Art. 32 KVG.
Andreas Faller ist Rechtsanwalt, Berater im Gesundheitswesen und Geschäftsführer für das Bündnis Freiheitliches Gesundheitswesen. In seiner Karriere war er unter anderem Generalsekretär und Leiter Gesundheitsdienste im Gesundheitsdepartement Basel-Stadt; Vizedirektor und Leiter des Direktionsbereiches Kranken- und Unfallversicherung im Bundesamt für Gesundheit; sowie Mitglied des Verwaltungsrates des Kantonsspitals Aarau und des Kantonsspitals Baselland.
Eine vom Bundesamt für Gesundheit in Auftrag gegebene Studie schätzte die Gruppe der betreuenden Angehörigen bereits im Jahr 2018 auf rund 592'000 Personen. Die Leistungen eines bedeutenden Teils dieser Personen kann oder könnte via OKP abgerechnet werden.
Kaum kontrollierbarer Kostenanstieg
Im OKP-Bereich wurde in den vergangenen sechs Jahren seit Publikation des wegweisenden Bundesgerichtsurteils nur wenig zur strukturierten Klärung der Lage und zur Schaffung stabiler Rechtsgrundlagen respektive Umsetzungsregeln getan.
Es droht nun ein immenser, kaum kontrollierbarer Kostenanstieg, weshalb auf der politischen Ebene in Bund und Kantonen durch zahlreiche Vorstösse zurecht ein umgehendes Tätigwerden gefordert wurde.
Die Versicherer versuchen, unter Beizug von Begriffen wie «Schadenminderungspflicht» und «familiäre Fürsorgepflicht» einseitig Regeln zu definieren, jeder auf eigene Art und Weise. Ein Dialog mit den Leistungserbringern hat hierzu kaum stattgefunden. Die damit entstehende Intransparenz und Rechtsunsicherheit trägt nicht zur Lösung bei.
Die Verantwortung für die Problemlösung lässt sich aber nicht einzelnen Akteuren zuweisen, es braucht vielseitiges Tätigwerden.
Ich habe 10 Empfehlungen formuliert. Ein Auszug daraus:
- Ein angekündigter Bericht des Bundesrates zur Angehörigenpflege muss zeitnah im vom Bundesrat definierten Umfang mit wegweisendem Charakter, konkreten Massnahmen inklusive Umsetzungs- und Zeitplanung fertiggestellt werden.
- Es muss eine Studie zur Mengen- und Kostenentwicklung bei der Angehörigenpflege zu Lasten OKP als Entscheidungsgrundlage erarbeitet werden.
- Eine klare Definition pflegender Angehöriger im OKP-Bereich muss geschaffen werden.
- Der Regulierungsbedarf zur Schaffung klarer Rahmenbedingungen auf Stufe Gesetz und Verordnung ist zu prüfen. Dabei muss definiert werden, wer Angehörigenpflege unter welchen Voraussetzungen zu Lasten der OKP erbringen darf (Verwandtschaftsgrad, Alter, Qualifikation, Qualitätsvorgaben, Definition und maximal abrechenbare Leistungen etc.).
- Es muss eine eigene Kategorie «Grundpflege durch Angehörige» mit gesonderter statistischer Erfassung durch das Bundesamt für Statistik geschaffen werden, dies getrennt von den Kosten der «klassischen» Spitex.
- Das Arbeitsgesetz muss in Bezug auf klare Vorgaben zu Arbeits- und Ruhezeiten sowie Anstellungsbedingungen bei der Angehörigenpflege angepasst werden.
- Eine transparente Operationalisierung der WZW-Kriterien gemäss Art. 32 KVG – in enger Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern und Versicherern – ist unerlässlich und muss zeitnah umgesetzt werden. Dabei sind auch die Begriffe «Schadenminderungspflicht» und «familiäre Fürsorgepflicht» zu operationalisieren. Hierzu sind Erkenntnisse aus anderen Bereichen der Sozialversicherung beizuziehen.
- Strukturierte Kontrollmechanismen bei den Kantonen in Bezug auf Qualität der Angehörigenpflege sowie Instruktion und Überwachung durch alle anstellenden Leistungserbringer (mit oder ohne öffentlichen Leistungsauftrag) sind sicherzustellen.
- Die Restkostenfinanzierung für Angehörigenpflege ist durch die Kantone zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen, sofern sich ergibt, dass die entsprechenden Organisationen zu hohe Margen aus der Beschäftigung pflegender Angehöriger erzielen.
- Es müssen Mechanismen gemäss Art. 122 der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) in Zusammenhang mit Art. 63 ff. des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) geschaffen werden zur Entdeckung und Verhinderung von Überentschädigungen aus den verschiedenen Bereichen der Sozialversicherung (OKP, IV, EO etc.). Hierzu braucht es transparente, standardisierte Prüfungen zu Beginn der Leistungspflicht nach OKP, wenn immer möglich einmal im Namen aller Versicherer, um Redundanzen und unnötige Bürokratie zu vermeiden.
Dieses Thema erträgt nach rund sechsjähriger, weitgehender Untätigkeit keine Verzögerungen mehr. Umgehend nach Vorliegen des angekündigten Berichtes des Bundesrates müssen strukturierte Arbeiten auf allen Ebenen an die Hand genommen werden, damit eine Angehörigenpflege nach transparenten und justiziablen Regeln umgesetzt werden kann – gestützt auf verifizierte Zahlen und Berechnung.
Die Handlungsfelder und notwendigen Schritte hierzu sind formuliert, es gibt keinen Grund mehr, zu zögern.