Antibiotika: So könnten die Verschreibungen reduziert werden

Mit Hilfe von Krankenkassendaten liessen sich Verschreibungen überwachen und mit einem einfachen Test reduzieren. Die Basler Forscher stiessen während der Projektphase damit aber auf taube Ohren.

, 4. Oktober 2022 um 09:39
image
Der Procalcitonin-Test alleine reicht bereits, um die Verschreibung von Antibiotika zu reduzierten. | zvg
Atem- und Harnwegsinfekte – bei diesen Erkrankungen werden in der Grundversorgung am meisten Antibiotika eingesetzt. Die Krux: Patientinnen und Patienten erhalten oft unnötigerweise Antibiotika verschrieben, was die Entstehung von Antibiotikaresistenzen fördert.
Deshalb wollten Forschende der Universität Basel um Heiner C. Bucher gezielt Hausärztinnen und -ärzte sensibilisieren, die besonders oft Antibiotika verschreiben. Das Problem: Deren Antibiotikaeinsatz wird nicht systematisch erfasst.
Trotzdem fanden die Basler Forschenden eine Lösung: Bucher und sein Team stellten fest, dass sich aus den Abrechnungsdaten von Krankenkassen für einzelne Patienten herauslesen lässt, wann, für was und in welcher Praxis sie ein Antibiotikum erhalten haben. Werden genügend viele Patientendaten analysiert, ermöglicht das Rückschlüsse auf die Verschreibungspraxis von Ärztinnen und Ärzten.

Daten von 1,3 Millionen Patienten

Für ihre Studie hatten die Forschenden Zugriff auf anonymisierte Daten der drei grössten Schweizer Versicherer. «Auch wenn wir weder Namen noch Adressen sahen, konnten wir alle Antibiotikaverschreibungen bestimmten Ärztinnen und Ärzten zuordnen», wird Projektmitarbeiterin Soheila Aghlmandi im Communiqué des SNF zitiert.
«Äztinnen und Ärzten, die sehr viel Antibiotika verschreiben, konnten wir ein Feedback zukommen lassen, ohne sie persönlich zu identifizieren.»
Soheila Aghlmandi, Projektmitarbeiterin
Äztinnen und Ärzte, die sehr viel Antibiotika verschreiben, erhielten ein Feedback, ohne dabei persönlich identifiziert zu werden.
Dafür mussten Bucher und sein Team jedoch zuerst automatisierte Abläufe entwickeln, die alle notwendigen Informationen aus den unterschiedlichen Datenformaten und -strukturen der jeweiligen Versicherer zusammenführen – angesichts der über 1,3 Millionen Patienten mit insgesamt mehr als vier Millionen Konsultationen ein enormer Aufwand.
Doch die Forschenden fanden Lösungen für alle technischen Hürden. So liessen sie in ihrem Projekt über 1500 Ärztinnen und Ärzten mit eher hohem Antibiotikaeinsatz jeweils alle drei Monate eine Rückmeldung zukommen.

Status quo in der Praxis

Zudem informierten sie diese – ebenfalls anonymisiert – zu Beginn der Studie über die aktuelle Resistenzlage und den durchschnittlichen Antibiotikaverbrauch anderer Arztpraxen in ihrer Region. Innerhalb der Studiendauer von zwei Jahren führten die Massnahmen allerdings zu keiner Verbesserung der Verschreibungspraxis.
Dennoch zeigt sich Aghlmandi zufrieden: «Wir haben gezeigt, dass man den Antibiotikagebrauch in der Grundversorgung kontinuierlich erfassen könnte», so Aghlmandi. «Und zwar so, dass Hausärztinnen und -ärzte keinerlei Mehraufwand haben.»
Die Methode liesse sich zu einem schweizweiten Monitoringsystem ausbauen. Allerdings, so betont Aghlmandi,
  • müssten dafür alle Krankenversicherer die entsprechenden Daten liefern,
  • und es müssten zunächst die technischen Lösungen erarbeitet werden, um diese zusammenzuführen.

Schnelltest reduziert Verschreibungen

Eine andere Massnahme zur Optimierung der Antibiotikaverschreibungen bei Atemwegsinfekten haben Forschende des Waadtländer Universitätsspitals (CHUV) um Noémie Boillat Blanco in einem weiteren NFP 72-Projekt getestet.
Ihr Ansatz fokussiert auf die Diagnose: Oft können Ärzte nicht allein aufgrund der Symptome feststellen, ob eine bakterielle Lungenentzündung vorliegt, die eine Antibiotikatherapie erfordert, oder eine nichtbakterielle Infektion, die von selbst wieder abklingt.
Boillat Blanco und ihr Team entwickelten ein Vorgehen, das einen Lungen-Ultraschall mit einem Procalcitonin-Test kombiniert, der zwischen bakteriellen und viralen Infekten differenzieren hilft. Da jedoch beide Methoden für sich genommen zu viele unsichere Diagnosen liefern, kombinierten sie ihre Resultate mit einem Algorithmus, um so die Präzision zu erhöhen.
In einer mehrmonatigen Praxisstudie wandten dreissig Hausärztinnen und -ärzte das neue Vorgehen bei allen Patienten an, die mit Symptomen eines Atemwegsinfektes vorstellig wurden. Tatsächlich verschrieben sie rund ein Drittel weniger oft Antibiotika als ebenfalls dreissig Ärztinnen und Ärzte in einer Vergleichsgruppe.
Doch überraschend habe sich herausgestellt, dass für eine Reduktion in dieser Grössenordnung bereits die Anwendung des Procalcitonin-Tests allein ausreiche, ist der Mitteilung weiter zu entnehmen. In der Tat sei das Procalcitonin-Ergebnis bei der Mehrheit der Patienten niedrig gewesen, und in diesen Fällen seien keine Antibiotika empfohlen worden.
Selten durchgeführt wurde eine zusätzliche Ultraschalluntersuchung, da sie nur bei Patienten mit einem hohen Procalcitonin-Wert vorgenommen wurde.

Krankenkassen sind gefragt

Auf die Genesung der Patienten hatten die geringeren Antibiotikaverschreibungen keinerlei negativen Auswirkungen. «Das heisst, wir können mit dem Procalcitonin-Test die Antibiotikaverschreibungen deutlich reduzieren, ohne dass die Behandlungsqualität darunter leidet», sagt Noémie Boillat Blanco.
Aufgrund dieser Ergebnisse hat die Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie die Anwendung des Procalcitonin-Tests in ihre Leitlinien zum Behandlungsmanagement von Lungenentzündungen aufgenommen.
Ob er sich durchsetzt, hängt gemäss Communiqué jedoch nicht zuletzt davon ab, ob ihn die Krankenkassen bezahlen. Um dies zu erreichen, hat das Team um Boillat Blanco in einer weiteren Studie gezeigt, dass das Vorgehen nur geringe Kosten verursacht und wirtschaftlich ist.
Der Test könnte also bald schweizweit in grösserem Umfang angewendet werden. Ob und wie sich dies insgesamt auf die Antibiotikaverschreibungen von Hausärztinnen und -ärzten auswirkt, liesse sich wiederum mit einem schweizweiten Monitoring überprüfen, wie es mit der Methode von Heiner C. Bucher und seinem Team möglich ist.
Das Projekt ist Teil des nationalen Forschungsprogramms «Antimikrobielle Resistenz» (NFP 72) und wird vom Schweizerischen Nationalfond (SNF) unterstützt. Publiziert wurde ein Preprint im Fachmagazin «The Lancet».

Das Nationale Forschungsprogramm «Antimikrobielle Resistenz»
Weltweit werden immer mehr Erreger resistent gegen die heute bekannten Antibiotika. Weil diese ihre Wirksamkeit verlieren, wandeln sich einst leicht behandelbare Infektionen zu tödlichen Krankheiten. Das Nationale Forschungsprogramm «Antimikrobielle Resistenz» NFP 72 sucht nach Lösungen, um dieser Entwicklung entgegenzutreten

Lesen Sie weiter zum Thema:

Diese fünf Behandlungen in der Gynäkologie sind unnötig

  • ärzte
  • forschung
  • antibiotika
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Ärzte in der Krise: Immer mehr suchen Unterstützung

Zu viel Arbeit, Burn-Out, Angst, Selbstzweifel und Depression: Das sind die fünf Hauptgründe für Ärzte und Ärztinnen, sich Hilfe bei der Remed-Hotline zu holen.

image

Berner Zeitungen verletzten Privatsphäre einer Ärztin

Ein Artikel in den Berner Medien enthielt zu viele Details über eine verurteilte Ärztin. Der Pressrat gab deshalb den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern (UPD) recht.

image

EPD: Verschnaufpause für Ärztinnen und Ärzte

Die Anschlusspflicht für Ärztinnen und Ärzte ans EPD soll erst mit der grossen Revision eingeführt werden.

image

USA: Milliardärin befreit Medizinstudenten von Studiengebühren

Am Albert Einstein College of Medicine in New York lernen die Medizinstudenten ab sofort gratis. Dank einer Milliardenspende.

image

Der IV fehlen die Ärzte – weil niemand dort arbeiten will

Schlechtes Image, andere Kultur: Deshalb hat die IV so grosse Mühe, genug Ärzte und Ärztinnen für die IV-Abklärungen zu finden.

image

Weltweit eines der ersten High-End-Dual-Source-CT-Systeme im Ensemble Hospitalier de la Côte in Morges

Welche Vorteile daraus für die regionale Bevölkerung entstehen, lesen Sie im nachfolgenden Interview mit Dr. Mikael de Rham, CEO vom Ensemble Hospitalier de la Côte (EHC).

Vom gleichen Autor

image

Kinderspital verschärft seinen Ton in Sachen Rad-WM

Das Kinderspital ist grundsätzlich verhandlungsbereit. Gibt es keine Änderungen will der Stiftungsratspräsident den Rekurs weiterziehen. Damit droht der Rad-WM das Aus.

image

Das WEF rechnet mit Umwälzungen in einem Viertel aller Jobs

Innerhalb von fünf Jahren sollen 69 Millionen neue Jobs in den Bereichen Gesundheit, Medien oder Bildung entstehen – aber 83 Millionen sollen verschwinden.

image

Das Kantonsspital Obwalden soll eine Tochter der Luks Gruppe werden

Das Kantonsspital Obwalden und die Luks Gruppe streben einen Spitalverbund an. Mit einer Absichtserklärung wurden die Rahmenbedingungen für eine künftige Verbundlösung geschaffen.