Frauen zwischen 50 und 69 Jahren, die am deutschen Brustkrebs-Screening teilnehmen, haben eine um 20 bis 30 Prozent niedrigere Brustkrebssterblichkeit als Nicht-Teilnehmerinnen – so neulich das Ergebnis
einer Auswertung im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz in Deutschland.
Die Kritik liess nicht lange auf sich warten. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) verlieh der Studie den Titel
«Unstatistik des Monats» und wirft ihr vor, mit verzerrten Risikozahlen zu operieren. Werden Frauen in die Irre geführt – oder zeigen die Programme tatsächlich Wirkung?
Medinside hat nachgefragt. Rudolf Morant, Präsident der Krebsliga Ostschweiz und Leiter des Früherkennungsprogramms «Donna», spricht im Interview über Zielsetzung, Nutzen und Grenzen des Screenings in der Schweiz.
Herr Morant, was sagen Sie zur zentralen Aussage der «Unstatistik des Monats», das Mammographie-Screening würde kein einziges Leben retten?
Die aktuell veröffentlichte grosse Deutsche Studie «Evaluation der Brustkrebsmortalität im deutschen Mammographie-Screening Programm» ist eine sehr sorgfältig durchgeführte Studie mit modernen statistischen Methoden, welche sogar konservativ rechnet und dank dem deutschen Mammographie-Screening eine Reduktion der Sterblichkeit an Brustkrebs von 20 bis 30 Prozent darlegt. Diese Zahlen stehen in Übereinstimmung mit anderen neueren europäischen Studien, auch mit unseren eigenen Daten, welche sich auf die Resultate von «Donna» unter Einbezug des Krebsregisters Ostschweiz stützen.
Rudolf Morant ist Präsident der Krebsliga Ostschweiz, die mit «Donna» eines der wichtigsten Screening-Programme der Schweiz führt. In seiner Karriere als Arzt leitete er unter anderem das Onkologische Ambulatorium des Kantonsspitals St. Gallen.
Folgende Aussage ist somit gut belegt durch die deutsche Studie und mehrere weitere relevante neuere Studien im aktuellen medizinischen und gesellschaftlichen Umfeld: Durch Teilnahme an einem Brustkrebsfrüherkennungsprogramm sinkt die Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu sterben, stark. Diese Befunde sind solide und plausibel.
Wie stehen Sie zum Vorwurf, es würde mit einem «statistischen Trick» gearbeitet, indem über die relative Reduktion der Brustkrebssterblichkeit berichtet wird, was den realen Effekt auf die Gesamtsterblichkeit dramatisch überhöhe?
Hier möchte ich eine allgemeine Überlegung mit vereinfachten Zahlen machen: Nehmen wir an, es sterben in der Schweiz 1500 Frauen jährlich an Brustkrebs, und dadurch, dass vielleicht alle Frauen an einem verbesserten Früherkennungsprogramm teilnehmen könnten oder eine bessere Behandlung zur Verfügung steht, würden im nächsten Jahr nur noch 1000 Frauen sterben. Man kann dann schreiben, dass 500 Frauen weniger an Brustkrebs gestorben sind, oder dass die Sterblichkeit an Brustkrebs um 30 Prozent gesunken ist. Beides wäre richtig. Wenn gleichzeitig auch absolute Zahlen bekannt sind, sind die entsprechenden relativen Ergebnisse gut verständlich und keinesfalls ein Trick.
«Es ist richtig, dass es mit den gegenwärtigen Studien statistisch nicht möglich war, eine generelle Verlängerung der Überlebenszeit nachzuweisen.»
Brustkrebs ist jedoch nur eine mögliche Todesursache, eine häufigere Todesursache sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In der Schweiz sterben etwa 60'000 Menschen jährlich, natürlich mit statistischen Schwankungen. Würden durch einen neuen medizinischen Eingriff jetzt beispielsweise 59'500 statt 60'000 Menschen in einem Jahr sterben, wäre dies weniger als 1 Prozent weniger. Das heisst, dies könnte statistisch nicht nachgewiesen werden, würde üblichen statistischen Schwankungen entsprechen. Das Studienresultat würde somit heissen: «Es kann statistisch keine Reduktion der Gesamtsterblichkeit nachgewiesen werden».
Gilt das auch für die Interpretation der Studien zum Brustkrebsscreening?
In der Tat. Aus statistischen Gründen ist es fast nicht möglich – und auch keineswegs erwartet –, eine Reduktion der Gesamtsterblichkeit nachzuweisen. Es ist somit richtig, dass es mit den gegenwärtigen Studien statistisch nicht möglich war, eine generelle Verlängerung der Überlebenszeit nachzuweisen; doch im Umkehrschluss zu folgern, dass dieser nicht mögliche Nachweis bedeutet, dass das Screening keinen Wert haben soll, ist einfach falsch. Eine Reduktion der Gesamtsterblichkeit kann zwar aus methodischen Gründen mit den aktuellen Studien nicht nachgewiesen werden, womit ich einverstanden bin. Dies ist aber nicht dasselbe wie die polemische Aussage im Artikel: «Es ist nicht bewiesen, dass Frauen mit Screening auch nur einen Tag länger leben».
Was macht die statistische Auswertung des Nutzens von Screeningprogrammen so anspruchsvoll?
Die technischen Möglichkeiten der Mammographie sind ist heute deutlich besser als früher. Die Strahlenbelastung ist geringer, die Behandlungsmöglichkeiten haben sich durch neue und wirksamere Medikamente, Operationsmöglichkeiten und Strahlentherapieoptionen allgemein verbessert. Dadurch ist die Sterblichkeit an Brustkrebs in den letzten Jahrzehnten stark gesunken. Es kann angenommen werden, dass die Ergebnisse von Früherkennungsprogrammen heute deutlich besser sind als vor einigen Jahrzehnten.
«Inwieweit ist das starke Abfallen der Sterblichkeit an Brustkrebs auf die Früherkennung zurückzuführen? Oder auf bessere Behandlung? Oder auf einen gesünderen Lebensstil?»
Allerdings ist es auch wahr, dass die richtige statistische Interpretation der heutigen Befunde oft nicht einfach ist. Inwieweit ist das starke Abfallen der Sterblichkeit an Brustkrebs auf die Früherkennung zurückzuführen? Oder auf bessere Behandlung? Oder auf einen gesünderen Lebensstil?
Warum gibt es keine neuen randomisierten Studien?
Das ist aktuell aus ethischen Gründen nicht mehr möglich. Kein Arzt und keine Frau würden sich dazu bereit erklären. Wir müssen uns deshalb auf statistisch komplexere vergleichende Studien beschränken, wie die erwähnte deutsche Studie – ein Vergleich von Frauen mit Brustkrebs, welche am Screening teilgenommen haben, mit Frauen mit Brustkrebs, welche nicht am Früherkennungsprogramm teilgenommen haben.
Halten Sie es für angemessen, wenn Frauen weiterhin zum Screening eingeladen werden?
In unserer Broschüre – die alle Frauen mit der ersten Einladung erhalten – wird offen über mögliche Vorteile und Risiken informiert. Fest steht: Das Nutzen-Risiko Verhältnis ist eindeutig positiv. Es ist in einigen Fällen allerdings möglich, dass nach einer als normal interpretierten Mammographie vor der nächsten geplanten Mammographie ein sogenanntes Intervallkarzinom diagnostiziert wird. In dichten Brüsten kann es sehr schwierig sein, einen ganz kleinen Tumor zu sehen, sodass auch ein seltenes Übersehen nicht ausgeschlossen werden kann.
«Der Ausdruck 'falsch positive Mammographien' ist nicht ideal. Manchmal müssen zusätzliche Untersuchungen gemacht werden für eine verbesserte Sicherheit.»
Es gibt Vorstufen von Krebs (in situ Karzinome), die möglicherweise noch viele Jahre der Frau keine Probleme gemacht hätten. Wenn sie in dieser Zeit an einem Herzinfarkt oder Unfall gestorben wäre, hätte sie nie von dieser Diagnose erfahren.
Manche Mammographien sind auch nicht eindeutig zu beurteilen und in seltenen Fällen – meist weniger als 3 Prozent – werden deshalb die Frauen nochmals eingeladen für eine weitergehende Untersuchung. In der Mehrheit dieser Fälle kann Entwarnung gegeben werden. Der manchmal dafür gebrauchte Ausdruck «falsch positive» Mammographien ist allerdings nicht ideal. Da die Mammographie nicht perfekt ist, müssen manchmal zusätzliche Untersuchungen gemacht werden für eine verbesserte Sicherheit der Resultate. Eine solche Wiedereinladung kann sicher die Frauen psychisch belasten.
Wie wichtig ist neben der Überlebensrate der Aspekt der Lebensqualität?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wie viele Studien belegen, kann dank den Früherkennungsprogrammen ein Brustkrebs früher entdeckt werden, wenn er noch kleiner ist (Frühstadium), und oft noch ohne Ableger in den Lymphknoten. Auch wenn heute dank viel besseren Behandlungsmöglichkeiten alle Frauen eine Überlebenswahrscheinlichkeit um 80 Prozent nach 10 Jahren haben, ist eine frühere Diagnose von bedeutendem Vorteil. Dies bedeutet eine weniger aggressive Behandlung, ein besseres kosmetisches Ergebnis der Brust nach einer Tumorentfernung (sogar nur halb so häufige Brustentfernung), 30 Prozent weniger Chemotherapien.
«Es ist nicht richtig, sich bei der Durchführung oder Bewertung von Studien nur auf die Überlebenswahrscheinlichkeit zu konzentrieren.»
Eine verminderte Sterblichkeit ist also nur ein bedeutender Endpunkt. Eine bessere Lebensqualität ist auch sehr wichtig, wenn nicht sogar ein noch wichtigeres Ergebnis einer Früherkennung. Es ist nicht richtig, sich bei der Durchführung oder Bewertung von Studien nur auf die Überlebenswahrscheinlichkeit zu konzentrieren.
At last, aber heutzutage not least: eine Früherkennung und einfachere Behandlung bedeutet auch weniger Kosten. Ein Früherkennungsprogramm ist gut investiertes Geld! Aus finanziellen Gründen diese Programme sterben zu lassen, wäre nicht nur medizinisch sehr schlecht, sondern auch finanziell (längerfristig, nicht im ersten Jahr) nachteilig.
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