Die Ausgangslage: Fachgesellschaften wie die SGR und SGS
schlagen Alarm. Wegen geplanter Tarifkürzungen sehen sie funktionierende kantonale Programme gefährdet. Ein wichtiges Argument dabei:
Aktuelle Monitoringdaten von Unisanté (2024) zeigen, dass rund 70 bis 73 Prozent der entdeckten Brusttumoren im Screening-Frühstadium erkannt werden – in einer Phase, in der die Heilungschancen besonders gut sind.
Studie zeigt: Screening senkt Sterblichkeit
Für Rückenwind sorgte im Juli eine
grosse Studie aus Deutschland, durchgeführt unter Federführung der Universität Münster. Im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) wertete ein Forschungsteam Daten von Frauen zwischen 50 und 69 Jahren aus, die von 2009 bis 2018 am deutschen Mammographie-Screening-Programm teilgenommen hatten. Das Ergebnis: Die Brustkrebssterblichkeit war bei Teilnehmerinnen um 20 bis 30 Prozent niedriger als bei Nicht-Teilnehmerinnen.
Etwa jeder vierte Todesfall in der untersuchten Altersgruppe könne durch das Screening verhindert werden, so die Schlussfolgerung. Der Effekt sei konservativ geschätzt, die Methoden modern und robust, Verzerrungen seien durch ein komplexes Studiendesign minimiert worden, heisst es von Seiten des
BfS . Die Forschenden sprechen von «konvergierenden Evidenzen», also einer Übereinstimmung der Resultate verschiedener Datenquellen mit sich ergänzenden methodischen Herangehensweisen.
«Statistischer Trick – kein Leben gerettet»
Doch die Begeisterung währt nicht lange.
Gerd Gigerenzer, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, widerspricht scharf.
In der Rubrik «
Unstatistik des Monats» des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung nennt er die Kommunikationsweise zur Studie eine «systematische Fehlinformation». Gigerenzers zentrale Kritik: Die oft zitierte relative Risikoreduktion von 20 bis 30 Prozent kaschiere, dass der absolute Unterschied winzig sei.
«Es gibt keinen Beleg dafür, dass Frauen durch das Screening auch nur einen Tag länger leben.» — Gerd Gigerenzer, «Unstatistik des Monats».
Konkret: Von 1’000 Frauen, die nicht am Screening teilnehmen, sterben etwa fünf innerhalb von elf Jahren an Brustkrebs. In der Screeninggruppe seien es vier. Dieser Unterschied entspreche einer Reduktion um eine Frau pro 1.000 – oder 0,1 Prozentpunkte. Gigerenzer spricht in diesem Zusammenhang von einem «statistischen Trick»: Man gebe den Effekt als relative Risikoreduktion aus, was den tatsächlichen Nutzen überhöhe.
Ebenso deutlich: «Es gibt keinen Beleg dafür, dass Frauen durch das Screening auch nur einen Tag länger leben», so Gigerenzer. Die Gesamt-Krebssterblichkeit sei in beiden Gruppen ebenfalls gleich. Auf der anderen Seite werde das Risiko von Fehlalarmen, Überdiagnosen und unnötigen Operationen systematisch verharmlost.
Und die Schweiz?
Auch in der Schweiz ist das Thema hochaktuell – allerdings mit anderem Ton. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es kein nationales Screening-Programm, sondern kantonale Lösungen mit teils unterschiedlichen Qualitätsstandards. Das St. Galler Programm «
Donna» etwa wird von der Krebsliga Ostschweiz betreut und gilt als Vorzeigemodell.
Ein
Monitoringbericht von 2024 belegt: Tumoren werden durch das Screening häufig in einem Stadium entdeckt, in dem sie noch lokal begrenzt sind. Folge: Weniger Mastektomien, weniger Chemotherapien, höhere Chancen auf brusterhaltende Operationen.
«Ich finde es wissenschaftlich unakzeptabel und moralisch bedenklich, weiterhin mit diesem alten Trick zu arbeiten. Das ist kein “echter Erfolg“ sondern eine Unstatistik.» —Gerd Gigerenzer, Stellungnahme gegenüber Medinside.
Doch Gerd Gigerenzer hält auch hier dagegen. In einer Stellungnahme gegenüber Medinside kritisiert er die Verwendung sogenannter 10-Jahres-Überlebensraten als irreführend: «Durch Früherkennung wird der Zeitpunkt der Diagnose nach vorne gelegt – wodurch die 10-Jahre Überlebensraten in der Screening-Gruppe automatisch höher werden.» Und weiter: «Ich finde es wissenschaftlich unakzeptabel und moralisch bedenklich, weiterhin mit diesem alten Trick zu arbeiten. Das ist kein “echter Erfolg“ sondern eine Unstatistik.»
Was jetzt wichtig ist
Kann man sich Programme also sparen? Das ist angesichts der hiesigen Tarifstreitigkeiten die brisante Frage. Gigerenzer – vom Fach her Psychologe – ist für Aufklärung, nicht Verbot. Screening könne nur dann informierte Entscheidungen ermöglichen, wenn auch ehrlich über Nutzen und Schaden gesprochen werde: über die geringe absolute Risikoreduktion, die Möglichkeit unnötiger Eingriffe, aber auch die psychische Belastung, die Diagnose und Behandlung mit sich bringen. Auch solle mehr Geld in die Entwicklung von Krebs-Therapien und von Programmen, die den Lifestyle ändern, investiert werden.
Auf Schweizer Seite argumentiert Rudolf Morant, Präsident der Krebsliga Ostschweiz, anders. Auch er räumt gegenüber Medinside ein, dass die statistische Interpretation anspruchsvoll ist – aber er bleibt überzeugt: «Durch Teilnahme an einem Brustkrebsfrüherkennungs-Programm sinkt die Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu sterben, stark. Diese Befunde sind solide und plausibel.»
Morants Perspektive: Nicht nur das Überleben zählt, sondern auch, wie belastend die Therapie ist. Und genau hier biete das Screening und eine frühzeitige Diagnose Vorteile.
Fazit: Keine einfache Wahrheit
Was bleibt, ist ein Dilemma: Die Studienlage ist komplex, die Kommunikation darüber umso mehr. Während die einen nüchterne Risikoabwägung fordern, betonen Vertreterinnen und Vertreter der Früherkennungsprogramme den Zugewinn an Lebensqualität.
Klar ist: Der Streit um Zahlen ist mehr als akademisch. In der Schweiz droht funktionierenden Programmen derzeit das Aus – mitten in einer Debatte, die dringend nach Transparenz verlangt. Nicht mehr Zahlen, sondern verständliche, ehrliche Information ist jetzt gefragt.