Warum der Bundesrat noch nicht locker lassen will

Warum hebt der Bundesrat nicht endlich die Ausgeh-Restriktionen auf, fragen sich viele. Die Antwort: Erst wenn es weniger als 100 neue Fälle pro Tag gibt.

, 8. April 2020 um 14:11
image
  • coronavirus
  • spital
  • politik
«Sie sind grossartig», lobte Simonetta Sommaruga die Schweizer Bevölkerung heute an der Medienkonferenz. Die Corona-Massnahmen wirken. Trotzdem werden sie um eine Woche bis am 26. April verlängert, teilte sie mit. Bundesrat Alain Berset fügte hinzu: Die Situation sei «fragile».
Viele Leute verstehen nicht, warum die Massnahmen nicht langsam gelockert, sondern noch weiter verlängert werden. Der Bundesrat könnte doch zumindest einen Teil der Einschränkungen, die uns seit Wochen behindern, endlich aufheben, denken sich viele.

Würde jetzt schon gelockert, würden die Zahlen wieder ansteigen

Doch er kann nicht. Denn die Erkenntnisse der Epidemiologen zeigen: Würde der Bundesrat zu früh beginnen mit Lockern, würden die Zahlen wieder steigen – und alle bisherigen Anstrengungen wären vergeblich gewesen.
Epidemiologie-Professor Marcel Salathé von der ETH Lausanne sagte kürzlich gegenüber Fernsehen SRF: «Mit mehr als tausend Fällen pro Tag ist das Risiko noch zu hoch. Denn die Gefahr besteht, dass die Zahlen gleich wieder hochschnellen, wenn wir die Restriktionen lockern. Erst wenn die Fallzahlen auf eine tiefe dreistellige – oder noch besser auf eine zweistellige – Zahl gesunken sind, ist eine Lockerung des Lockdowns aus epidemiologischer Sicht zu verantworten.»

Zurück zu Phase eins: Konsequente Rückverfolgung der Fälle

Er stellt sich dabei nicht auf sein Gefühl ab, sondern auf die Statistik. Und die besagt: Erst wenn die Zahl der täglichen Neuansteckungen auf 100 oder tiefer sinkt, ist es möglich, wieder wie zu Beginn der Epidemie jeden Fall zurückzuverfolgen und nicht nur die angesteckte Person, sondern auch die Kontaktpersonen schnellstmöglich in Quarantäne zu schicken.
Diese erfolgreiche Strategie wandte der Bundesrat auch am Anfang an. Doch je mehr Personen sich ansteckten, umso schwieriger wurde es, die Strategie umzusetzen. Schwierig ist die Nachverfolgung auch, wenn Infizierte viele Kontakte hatten.

Am schwierigsten zu kontrollieren sind Grossansammlungen

Deshalb verbot der Bundesrat auch in der ersten Phase schnell einmal Veranstaltungen mit über 1000 Personen. Und deshalb werden solche Grossansammlungen von Menschen - etwa an Konferenzen oder Veranstaltungen - auch bei einer schrittweisen Lockerung der anderen Massnahmen vermutlich dieses Jahr nicht mehr möglich sein – ausser es stünde bereits vorher ein zuverlässiger Impfstoff zur Verfügung.

Herdenimmunität ist unrealistisches Ziel

Warum kehrt der Bundesrat seine Strategie also nicht um und strebt künftig die so genannte «natürliche Herdenimmunität» an, indem er die Ansteckungen zulässt? Dieses Risiko einzugehen wäre ethisch schwer vertretbar, und ausserdem auch rein statistisch gesehen nicht machbar.
Derzeit gibt es in der Schweiz nachweislich rund 24 000 Corona-Infizierte. Geht man von einer hohen Dunkelziffer aus, nämlich dass nur ein Zehntel der Fälle entdeckt werden, gäbe es in der Schweiz 240 000 Infizierte. Herdenimmunität erreichen lässt sich erst, wenn mindestens 60 Prozent einer Gemeinschaft infiziert sind.
Das würde für die Schweiz bedeuten: Es müssten mindestens 4,8 Millionen Einwohner mit dem Virus infiziert und wieder gesund werden. Noch über 4,5 Millionen Menschen müssten also angesteckt werden. Geht man von einer Sterblichkeitsrate von 3,8 Prozent aus, wie sie laut Statista in der Schweiz vorliegt, müsste man 170 000 Tote in Kauf nehmen, bis die Herdenimmunität erreicht wäre.

Vielleicht hilft auch ein bisschen Glück

So weit die Zahlenstatistik. Nun verbreitet sich ein Virus jedoch nicht streng nach statistischen Voraussagen. Derzeit noch unbekannte Eigenschaften des Coronavirus könnten auch neue Chancen eröffnen: Das Virus könnte zum Beispiel in der warmen Jahreszeit weniger ansteckend werden.
Oder es könnte sich zeigen, dass ein Teil der Bevölkerung eine natürliche Immunität aufweist. In diesen Fällen könnten wir Glück haben und müssten nicht ganz so lange in den Beschränkungen ausharren, die uns auferlegt worden sind. Ganz aufschnaufen dürfen wir aber erst, wenn ein Impfstoff gefunden ist. Bis ein solcher erprobt ist, wird es aber noch eine Weile dauern.
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

FMH, Pflegeheime, Spitex und Curafutura wollen Efas

Selten sind sich Ärzte, Spitäler und Kassen so einig: Sie wollen ambulante und stationäre Leistungen einheitlich finanziert haben.

image

Psychiatrie-Zentrum Engadin / Südbünden zieht ins Spital Samedan

Die heutigen PDGR-Standorte in Samedan und St. Moritz werden aufgelöst.

image

Das Potenzial der vernetzten Radiologie

Das traditionelle Spitalkonzept muss sich ändern, um den Anforderungen des sich wandelnden Gesundheitswesens gerecht zu werden. Ein Beispiel dafür ist das "Hub and Spoke"-Modell. Am Beispiel des Kantonsspitals Baden (KSB) zeigen wir, wie dieser Ansatz Synergien in der Vernetzung verbessern kann.

image

Spital Samedan prüft Zusammenschluss mit Kantonsspital Graubünden

Die Stiftung Gesundheitsversorgung Oberengadin untersucht zwei strategische Wege in eine nachhaltige Zukunft.

image

Kantonsspital Aarau: Mehr Betten im Neubau

Wegen einer «unverändert hohen Patientennachfrage» plant das KSA nun doch mehr Betten.

image

Hirslanden: Umbau an der Spitze – näher zu den Regionen

Hirslanden-Zürich-Direktor Marco Gugolz zieht als Regional Operations Executive in die Konzernleitung ein.

Vom gleichen Autor

image

SVAR: Neu kann der Rettungsdienst innert zwei Minuten ausrücken

Vom neuen Standort in Hundwil ist das Appenzeller Rettungsteam fünf Prozent schneller vor Ort als früher von Herisau.

image

Kantonsspital Glarus ermuntert Patienten zu 900 Schritten

Von der Physiotherapie «verschrieben»: In Glarus sollen Patienten mindestens 500 Meter pro Tag zurücklegen.

image

Notfall des See-Spitals war stark ausgelastet

Die Schliessung des Spitals in Kilchberg zeigt Wirkung: Nun hat das Spital in Horgen mehr Patienten, macht aber doch ein Defizit.