«Die Ärzteschaft ist empört und nicht mehr gewillt, länger zu schweigen», steht in einem offenen Brief an Regierungsrat und Thurgauer Gesundheitsdirektor Urs Martin. Das Schreiben, welches an die Thurgauer Hausärzte per E-Mail ging, liegt nun auch Medinside vor. Verfasst hat den Brief Caroline Segert. Die Thurgauer Ärztin für Allgemeine Innere Medizin FMH ist mit der Impfverteilungsstrategie des Kantons nicht zufrieden.
Es dürfe nicht sein, sagt sie am Telefon, dass die impfwilligen Thurgauer Hausarztpraxen nur Impfstoff bekämen, wenn die kantonalen Impfzentren diesen nicht benötigten. Das bestens aufgestellte schweizerische Hausarztnetzwerk würde es eigentlich jedem Senior und schwer Kranken erlauben, sich einfach, unbürokratisch und wohnortnah impfen lassen zu können. Hausärzte und mobile Impfequipen würden die definierte erste Zielgruppe der Höchst-Risikopatienten am effizientesten erreichen. Segert ist der Meinung, um die nationale Impfstrategie – basierend auf medizinischen Fakten – umsetzen zu können, müssten die Hausärzte bezüglich der Impfstofflieferung zusammen mit der mobilen Impfequipe an vorderster Front den Impfstoff erhalten.
Doch von vorne: Vor einigen Tagen meldete auch der US-Pharmakonzern Moderna Lieferengpässe bei seinem Corona-Impfstoff. Das hat auch für den Thurgau Folgen. Die Menge der Impfdosen, die diese Woche vom Bund an den Kanton geliefert wurden, fällt geringer aus als vorgesehen. 1868 Dosen erhielten die kantonalen Impfzentren – der Betrieb musste auch hier reduziert werden. Das Nachsehen haben die Thurgauer Hausärzte.
Ärzte haben sogar ihre Ferien verschoben
Der Kanton zählt rund 150 Hausarztpraxen, von denen 30 für die Impfung vorgesehen sind. Diese hätten eigentlich gestern mit dem Impfen beginnen sollen. Die Vorbereitungen darauf waren für die Hausärzte mit viel administrativem Aufwand verbunden. So mussten sie etwa Sprechstunden ummodeln und eine Auswahl treffen, um ihre impfwilligen Hochrisikopatienten zu selektionieren. Einige Ärzte verschoben sogar ihre Ferien, um fürs Impfen ihrer Patienten da zu sein.
Vergangenen Freitag kam es dann aber eben zur unangenehmen Überraschung: Die 30 Praxen sollen ihre je 100 Moderna-Impfdosen vorerst doch nicht erhalten. Für die Thurgauer Hausärzte heisst das: 3000 mehrheitlich schon geplante Impfkonsultationen müssen verschoben werden.
Das sagt der Präsident der Ärztegesellschaft Thurgau
Der Unmut bei den Thurgauer Hausärzten ist gross. Dies wird etwa in einem Rundmail (liegt der Redaktion ebenfalls vor) von Alex Steinacher, dem Präsidenten der Ärztegesellschaft Thurgau, ersichtlich. Die Ärztegesellschaft Thurgau sei bei der Umsetzung der Impfstrategie des Bundes für die Thurgauer Bevölkerung weder in die Planung noch in die strategischen Entscheidungen einbezogen worden. Steinacher verweist auch auf die Thurgauer Ärztin Sigrun Frohneberg-Däpp, die auf seine Intervention hin, erst seit drei Wochen als Gast im Fachstab Pandemie Einsitz nehmen konnte. Dies mit dem Ziel, die Kommunikation und den Informationsfluss verbessern zu können. Weder Frohneberg-Däpp noch er hätten im Detail Einsicht in die Impfstoffmengen und deren Allokation.
Steinacher sieht ein essenzielles Problem darin, dass die älteren Patienten, die der Hochrisikogruppe angehören, in Thurgauer Praxen immer noch nicht mit dem Moderna-Impfstoff geimpft werden können, wohingegen im Frauenfelder Impfzentrum bereits Patienten der Klasse 1b und höher geimpft würden.
«Uns geht es um das Wohl der Risikopatienten»
Ärztin Segert wird in ihrem offenen Brief, der als Appell an Regierungsrat und Thurgauer Gesundheitsdirektor Urs Martin gerichtet ist, noch etwas konkreter: «Uns Hausärzten geht es um das Wohl der Risikopatienten, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind, und nicht um die Befriedigung alter beruflicher Seilschaften oder um medienwirksame PR-Aktionen. Wir Hausärzte fordern Sie [Regierungsrat Urs Martin] zum Wohle der raschen Versorgung der Risikopatienten auf, in erster Linie denjenigen Ärzten und Praxen den notwendigen Impfstoff zur Verfügung zu stellen, die am nächsten bei den Risiko- und Höchstrisikopatienten sind.»
Des Weiteren schreibt die Thurgauer Hausärztin, das Problem lasse sich nicht darauf reduzieren, dass aktuell Lieferengpässe bestünden. Urs Martin, so scheine es ihr, würde andere Prioritäten verfolgen. Dass Martin vor seiner Zeit als Regierungsrat fast zehn Jahre lang als Leiter für öffentliche Angelegenheiten bei der Hirslanden-Gruppe fungierte, liess Segert aufhorchen. Denn es ist dieselbe Privatklinikgruppe, welche die beiden kantonalen Covid-19-Impfzentren – im Auftrag des Kantons Thurgau und der Spital Thurgau AG – aufgebaut hat und auch für deren Betrieb zuständig ist.
Impfschiff schlägt hohe Wellen
Im Thurgau wird seit 4. Januar unter der Führung von mobilen Impf-Teams in Alters- sowie Pflegeheimen geimpft und seit 14. Januar ist in Frauenfeld das erste kantonale Covid-19-Impfzentrum in Betrieb. Das zweite –
das Impfschiff – wurde am 2. Februar eröffnet. An der Eröffnung dabei war auch Bundesrat Alain Berset; der prominente Gast liess sich vom Thurgauer Gesundheitsdirektor Martin das schwimmende Impfzentrum zeigen.
Die Ärzteschaft stehe zum jetzigen Zeitpunkt nicht hinter dem Impfschiff, ist in Segerts Brief zu lesen. Denn an jedem Ort, an dem das Schiff anlege, stünden zwischen 10 bis 15 bestens funktionierende und impfbereite Hausarztpraxen. «Die Hausärzte kennen ihre Patienten am besten und in ihren Praxen werden wirklich prioritär diejenigen geimpft, die den Impfstoff am dringendsten benötigen», schreibt Segert. Auf dem Impfschiff sei dies nicht so, dort würden auch Nicht-Risikogruppen geimpft. «Es geht knapper Impfstoff für Höchst-Risikopatienten verloren.» Impfstrassen, Impfzentrum sowie Impfschiff seien nicht grundsätzlich falsch, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt geeignet, Massenimpfungen an Gesunden durchzuführen und – wie es der Name schon sagt –, wenn massenhaft Impfungen zur Verfügung stehen, präzisiert Segert.
Probleme schon im Vorfeld
Nicht nur die Impfverteilungsstrategie frustriert die Thurgauer Hausärzte: Bereits im Vorfeld kam es zu kommunikativen Pannen seitens des Kantons. So erzählt etwa ein Hausarzt, der nicht mit Namen genannt werden möchte, nachdem er endlich mit viel Aufwand seine Hochrisikopatienten für die Impfung angemeldet habe, sei er von einer Patientin aufmerksam gemacht worden, dass man sich auch selber online anmelden könne.
Die fehlende Kommunikation scheint auch in anderen Kantonen ein Problem zu sein. «Dass sich über 75-jährige Patienten selbst hätten online anmelden müssen, stiess auf nachvollziehbares, enormes Unverständnis», schrieb eine Hausärztin aus dem Raum Zürich in ihrem Kommentar zu einem kürzlich erschienen
Medinside-Artikel. Auch für sie sei die Situation frustrierend. Trotz eines Patientenstamms von 5000 Patienten hätte die Praxis keinen Impfstoff erhalten.
Die Moderna-Impfdosen für den Thurgau sollen voraussichtlich heute geliefert werden. Alex Steinacher, der Präsident der Ärztegesellschaft Thurgau, sagt jedoch auf Anfrage, dass der Kanton bis gestern Abend noch keine Informationen über eine allfällige Lieferung bekannt gegeben und die Einladung zu einer gemeinsamen Besprechung zwischen dem Distributor und der Ärztegesellschaft zur weiteren Planung ignoriert habe.