Natürlich: Genf ist ein Spezialfall. Gerade deshalb richtete der Grenzkanton 2015 mit den Gesundheitsbehörden in der französischen Nachbarschaft ein «Observatoire» ein. Damit wollen die Instanzen überwachen, wie sich die Lage auf dem gemeinsam Arbeitsmarkt für Gesundheitspersonal entwickelt – diesseits wie jenseits der Grenze.
Insgesamt acht französische und Schweizer Institutionen tauschen dabei Daten und Erfahrungen aus, wobei einerseits das Genfer Unispital HUG (10’800 Mitarbeiter), andererseits das Centre Hôpital Annecy Genevois (4'400 Mitarbeiter) die grössten Brocken darstellen.
Pflegemangel? Welcher Pflegemangel?
Jetzt ist der erste Bericht des erwähnten «Observatoire» erschienen, und er lässt sich klar zusammenfassen: Wir sehen eine Schieflage in extremis. So war das HUG im Beobachtungsjahr 2015 in der Lage, alle Pflegestellen zu besetzen – während alle befragten französischen Häuser über grosse Lücken in der Pflege klagen.
In jenem Jahr verloren die öffentlichen Spitäler im französischen Grenzgebiet ein Fünftel ihres Pflegepersonals. Mit der Folge, dass ein erheblicher Teil der Pflegestellen mit Hilfskräften ohne Diplom besetzt werden mussten.
Die Fluktuation war allerdings auf beiden Seiten der Grenze hoch, sie erreichte auch in Genf 20 Prozent beim ausgebildeten Pflegefachleuten beziehungsweise 19 Prozent beim Pflege-Hilfspersonal (aides-soignants).
HUG: 67 Prozent stammen aus Frankreich
Aber eben: Die Richtung der Abgänge war einseitig – die einen verloren, die anderen konnten einfach neu rekrutieren.
Am Ende zeigte sich: Mehr als zwei Drittel des diplomierten Pflegepersonals am HUG war in Frankreich ausgebildet worden (67 Prozent). Über alle Berufe hinweg machten Franzosen 35 Prozent des Personals in den HUG aus.
Die reziproke Zahl dazu: Genf bildet nur etwa 30 Prozent des Pflegepersonals aus, das im Kanton benötigt wird.
Ein Kerngrund für diesen sehr einseitigen Strom ist rasch erfasst: Am Genfer Unispital verdient eine Pflegefachperson zwischen 6'540 und 8'842 Franken; für Spezialisten gibt es zwischen 6'830 und 9'240 Franken; dies
recherchierte die «Tribune de Genève» zum erwähnten Bericht.
Zum Vergleich: In Frankreich schwankt der Nettolohn einer ausgebildeten Infirmière zwischen 1'580 Franken (1'480 Euro) und knapp 3'100 Franken (2'860 Euro) am Ende der Karriere. Das ist zwar ein Brutto-Netto-Vergleich, aber der Graben ist auch so gross.
Tropfen auf dem heissen Stein
Was tun? Im Bericht deuteten die Verantwortlichen einige Projekte an, die allerdings eher an den Tropfen auf dem heissen Stein erinnern. So gewähren die Spitäler in Frankreich jetzt jungen Pflegeinteressierten ein Ausbildungs-Stipendium von 800 Franken – wobei sich die «jeunes diplômés» dann verpflichten, in den ersten zwei Berufsjahren im Land zu arbeiten. Andererseits wird in Genf mehr ausgebildet: Die Zahl der Pflege-Studierenden an der Fachhochschule
(Haute École de Santé) verdoppelte sich von 79 im Jahr 2008 auf 160 im letzten Jahr.
Die Grenzen des Inländervorrangs
Das Genfer Beispiel zeigt allerhand zu den eifrig debattierten Ideen zur Umsetzung der «Masseneinwanderungsinitiative» beziehungsweise zum Inländervorrang. Denn im Grenzkanton müssen offene Stellen in der Verwaltung und bei öffentlichen Institutionen zuerst dem Arbeitsamt gemeldet werden. Erst zehn Tage später darf man sie auch öffentlich ausschrieben. Maximal fünf vorgeschlagene Arbeitslose erscheinen zum Vorstellungsgespräch. Werden sie nicht angestellt, braucht es eine schriftliche Begründung.
Nur: Seit diese Regel eingeführt wurde, änderte sich im Bereich der Pflege gar nichts. Denn das Pflegepersonal ist dermassen gefragt, dass sich hier ohnehin kaum jemand auf dem Arbeitsamt melden muss.
Wirkung im technischen und therapeutischen Bereich
Allerdings: In anderen Bereichen zeigte die Massnahme tatsächlich Wirkung. Wie HUG-Sprecher Nicolas de Saussure auf Radio SRF sagte, fanden so mehr arbeitslose Einheimische eine Stelle an den Genfer Unispitälern, etwa in der Administration, Logistik oder der Küche. Etwa jede dritte Anstellung erfolge nun aufgrund von Vorschlägen des Arbeitsamtes
(mehr dazu hier).
Auch im medizinisch-technischen und im medizinisch-therapeutischen Bereich, so de Saussure gestern in der
«Tribune de Genève», habe man in den letzten zwei Jahren mehr Personen aus der Schweiz rekrutiert.