Müssen Medikamenten-Versuche in Bern aufgearbeitet werden?

Auch der Kanton Bern müsse die Zwangsmedikation von psychisch Kranken aufarbeiten, findet eine Berner Grossrätin. Doch die Gesundheitsdirektion findet das nicht nötig.

, 22. Januar 2020 um 06:47
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Der Kanton Thurgau hat es sich 750 000 Franken kosten lassen, damit ein Team von Historikern die Vergangenheit der psychiatrischen Klinik Münsterlingen kritisch durchleuchtete. Heraus kam bei der akribischen Aufarbeitung des Klinik-Archivs, dass Klinikdirektor Roland Kuhn bis ins Jahr 1980 an über 3000 Patienten Dutzende von Substanzen testete.
Nun zeigt die Dissertation der Ärztin Julia Manser-Egli: Auch in der damaligen Waldau, den heutigen Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD), wurden neue Medikamente an Patienten getestet – gegen deren Willen. Die Autorin durchsuchte über 500 Patienten-Akten und stellte fest, dass in rund 50 Fällen nicht zugelassene Stoffe verabreicht worden sind.

Alle staatlichen und privaten psychiatrischen Kliniken im Kanton Bern

Die SP-Grossrätin Ursula Marti will es nicht bei dieser Studie über die Waldau bewenden lassen. Sie fordert eine komplette Aufarbeitung im ganzen Kanton Bern, wie die «Berner Zeitung» berichtete. Das heisst, dass auch die anderen kantonalen Kliniken, also jene in Münsingen, Meiringen und Bellelay untersucht werden müssten.
Auch die Privatklinik Wyss, ehemals die private Nervenheilanstalt Münchenbuchsee, würde wohl durchleuchtet. Mit Gründungsjahr 1845 ist sie die älteste psychiatrische Klinik des Kantons Bern.

Gesundheitsdirektion will kein Geld dafür ausgeben

Die Berner Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI) sieht laut «Berner Zeitung» keinen Bedarf für weitere Abklärungen in den kantonalen Kliniken. Solche Studien seien schon in anderen Kantonen in Auftrag gegeben worden; die Resultate seien stets ähnlich, sagte der Kantonsapotheker Samuel Steiner und kommt zum Schluss: Es sei nicht notwendig, dass nun auch noch Bern Geld für eine weitere solche Studie ausgebe.
Sinnvoller sei eine gesamtschweizerische Studie. Das würde auch Ursula Marti befürworten. Eine solche sei aber derzeit nicht geplant. Also müsse der Kanton die Verantwortung übernehmen. Ursula Marti ist sich bewusst, dass damals andere Umstände herrschten.

Ziel der Ärzte war wohl, zu helfen

«Die Patientenrechte waren zu dieser Zeit weniger ausgebaut.» Und die Ärzte hätten das Ziel gehabt, den Patienten zu helfen. «Trotzdem waren die Tests ein schwerer, nicht tolerierbarer Eingriff in die Rechte der Patientinnen und Patienten», findet Ursula Marti. Deshalb sei ihnen der Kanton eine Aufarbeitung schuldig.
Medikamententests mit nicht zugelassenen Präparaten in psychiatrischen Kliniken gab es früher vermutlich in der ganzen Schweiz. Bekannt geworden sind solche Experimente in Basel, Zürich, Münsterlingen (TG), Herisau (AR) und St. Urban (LU). Aber auch in den psychiatrischen Universitätskliniken Bern, Genf und Lausanne sowie in den psychiatrischen Kliniken Münsingen (BE) und Wil (SG). Die Medikamente stellte die Pharmaindustrie gratis zur Verfügung und erhielt im Gegenzug von den Kliniken Testresultate.

Einzelne Patienten starben, anderen ging es besser

So wurde etwa das Testpräparat «MF 10» getestet. Dessen Nebenwirkungen umfassen 34 Symptome, von Kollaps bis zu Halluzinationen. In Münsingen wurde «Marsilid Roche» an 41 Frauen und 16 Männern, die an Depression oder Schizophrenie litten, getestet. Die Wirkstoffe führten manchmal zu heftigen Nebenwirkungen. Einzelne Patienten starben vermutlich an den Folgen. In vielen Fällen führten die Medikamente aber auch zu Verbesserungen.
Dass der Kanton keine weiteren Abklärungen in seinen psychiatrischen Kliniken in Auftrag geben will, hat offenbar nichts damit zu tun, dass sich die Kliniken dagegen wehren. So versicherte der UPD-Sprecher Mike Suter gegenüber Medinside: «Wir würden selbstverständlich unsere Archive öffnen – genauso wie wir es bereits für Julia Manser-Egli gemacht haben.»
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