«Gentests sollten nicht zu besseren Horoskopen werden»

Sabina Gallati ist Genetik-Expertin. Im Interview spricht die Professorin über ihre Arbeit im Labor und über ihre Zukunftswünsche. Hoffnung setzt sie in die Kardiogenetik, die sich bei Hausärzten kaum durchgesetzt hat.

, 5. Juli 2022 um 05:35
image
  • hirslanden
  • hirslanden precise
  • genomik
  • kardiologie
  • krebs
Die genetische Veranlagung ist für die Entstehung und den Verlauf vieler Krankheiten mitverantwortlich. Genetische Analysen helfen, genaue Diagnosen zu stellen sowie gezielte Therapien anzubieten. Hoffnung setzen Spezialisten vor allem in die genetische Analyse bei Herzpatienten: in die sogenannte Kardiogenetik. Eine Spezialistin auf dem Gebiet der Humangenetik und genomischen Medizin ist Sabina Gallati Kraemer. Seit zwei Jahren ist sie Co-Leiterin von Hirslanden Precise

Frau Gallati, am 18. November eröffnete die Hirslanden als erste private Spitalgruppe der Schweiz ein Zentrum für genomische Medizin mit eigenem Genetik-Labor in Zollikon. Wie waren Ihre ersten Tage nach der Eröffnung?

Leider konnten wir nicht wie gewünscht am 18. November starten. Wegen der Coronapandemie kam es bei den Reagenzien und gewissen Geräten zu Lieferschwierigkeiten. Im Januar mussten wir die verschiedenen Methoden dann erst einmal etablieren und validieren. Parallel dazu fingen wir peu à peu mit den Beratungen unserer Patientinnen und Patienten an. Diese haben inzwischen zugenommen.

«Peu à peu» klingt nach einem ruhigen Start …

Bisher kamen rund 40 Personen zu uns in eine Vorbesprechung. Etwa die Hälfte kam aus privatem Interesse an einer genetischen Untersuchung, die andere Hälfte wurde vom Hausarzt oder aufgrund eines klinischen Verdachts von einem Spezialisten überwiesen.

Gehen alle Patienten nach dem Vorgespräch zur Blutabnahme?

Nein, nicht zwingend – ich habe schon zahlreiche Personen beraten, bei denen kein Handlungsbedarf bestand. Das A und O jeder genetischen Untersuchung ist die vorgängige genetische Beratung. Darin ermitteln wir, ob eine Testung der Gene überhaupt Sinn macht. Die Fragestellung muss klar definiert sein. Auch ein überweisender Arzt muss genau wissen, wonach er sucht und die genetischen Befunde stets im Kontext der Symptome eines Patienten beurteilen. Die Vorbesprechung dient unter anderem dazu, die Indikation und die zu untersuchenden Gene zu bestimmen.

Eine genetische Untersuchung kann bis zu drei Monate dauern und zwischen fünf- und sechstausend Franken kosten. Wer übernimmt diese Kosten?

Die Kostenübernahme variiert von Fall zu Fall: Private Personen, die ihre Gene aus eigenem Interesse testen lassen, bezahlen die Untersuchung selber. Privat Versicherte haben die genetische Untersuchung, je nach Versicherer, bei klinischem Verdacht in den Leistungen eingeschlossen. 

Leider wollen sich viele Versicherer von der Übernahme der Kosten für die Laboranalyse entziehen.

Patienten, die allgemein versichert sind und vom Hausarzt oder Fachspezialisten überwiesen werden, erhalten die genetische Beratung vergütet. Sie ist eine Pflichtleistung und wird von der Krankenkasse bezahlt. Danach wird es etwas komplizierter.

Inwiefern?

Leider wollen sich viele Versicherer von der Übernahme der Kosten für die Laboranalyse entziehen. Deshalb müssen wir für alle genetischen Untersuchungen beim Versicherer einen Antrag zur Kostengutsprache einreichen. Das ist ein grosser Aufwand für uns.

Der sich hoffentlich in der Regel lohnt …

Leider nicht immer – es kommt immer wieder vor, dass die Kostengutsprache trotz unseren gezielten Argumenten für eine genetische Untersuchung abgewiesen wird.

Ein Patient, der trotz eines klinischen Verdachts beim Versicherer abblitzt und dann zum Beispiel an Krebs erkrankt, belastet das Gesundheitssystem wahrscheinlich mit höheren Kosten. Wäre die Prävention mittels Gentestung nicht angezeigt und kostengünstiger?

In dieser Sache ist man schon seit längerem im Gespräch mit den Krankenkassen. Es gibt Versicherer, die sehr grosszügig sind und, wie erwähnt, die genetische Untersuchung in der privaten Versicherung eingeschlossen haben. Doch nicht jedermann kann sich eine private Versicherung leisten. Die Schweiz steht trotz sehr hohen Prämien in der Sache schlecht da. Im Ausland, wie etwa in Deutschland und Grossbritannien, werden genetische Abklärungen generell und insbesondere auch als präventive Massnahme bezahlt.

Ist ein eigenes Genetik-Labor unter diesen Aspekten überhaupt erstrebenswert für private Spitäler?

Nun, es braucht mit Sicherheit eine gewisse Grösse. Nicht jedes Privatspital kann sich ein eigenes Genetik-Labor leisten, beziehungsweise aufbauen. Neben finanziellen Mitteln braucht es kompetente Fachleute, die im Stande sind, genetische Untersuchungen technisch durchzuführen und die Daten auszuwerten.

Technisch gesehen sind genetische Untersuchungen einfacher geworden, wie ich mich gerade im Labor überzeugen konnte …

Die heutige Technik macht es einfacher, die genetische Information zu sequenzieren, beziehungsweise nachzuweisen. Was in Vergessenheit gerät: Je mehr Daten generiert werden, umso aufwändiger wird deren Auswertung und Interpretation. Wenn wir Tausende Gene filtern und einen Grossteil davon prüfen, dauert dies zwei bis drei Monate. Punkto Geschwindigkeit liegen wir damit trotzdem in einem guten Rahmen. Wir sparen jedoch keine Zeit auf Kosten der Qualität. Das ist einer der Vorteile eines Inhouse Genetik-Labors.

Gibt es noch weitere Vorteile?

Die Ärzte haben eine Anlaufstelle und können ohne Umwege mit ihren Anliegen oder Fragen auf uns zukommen. Weiter können wir interdisziplinäre Beratungen und Befundbesprechungen anbieten; das ist ein grosser Vorteil für den Patienten.

Mit welchen Nachteilen müssen Patienten rechnen?

Die Wartezeit von drei Monaten kann für Patienten mit klinischem Verdacht eine Herausforderung sein. Manchmal kommt es auch vor, dass wir trotz intensiver Suche keine eindeutige Antwort liefern können oder Zufallsbefunde erheben. Je mehr Gene wir anschauen, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir etwas entdecken, wonach wir nicht gesucht haben.

Sie suchen nach Genen, die vererbbare Krankheiten wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen auslösen. Letztere sind sogar die führende Todesursache in der industrialisierten Welt. Welche Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind eigentlich vererbbar?

Klassische, vererbbare Herzerkrankungen sind vor allem familiär bedingte Herzmuskelerkrankungen, gefährliche Herzrhythmusstörungen, oder schwere Lipid-Stoffwechselstörungen. Diese können zum Beispiel zu plötzlichem Herztod oder zu einer koronaren Herzkrankheit, sprich zu einer kritischen Verengung der Herzkranzgefässe, führen. Symptome können Rhythmusstörungen, Atemnot, Engegefühl, Schmerzen in der Brust oder auch zwischen den Schulterblättern sein.

Welche Personen sollten eine genetische Untersuchung ins Auge fassen?

Eine erhebliche genetische Komponente besteht bei Personen, deren Eltern und/oder deren Geschwister schon in relativ jungen Jahren – Männer unter 55, oder Frauen unter 65 Jahren –, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten. 

Ich denke nicht, dass Hausärzte auf die Kardiogenetik sensibilisiert sind. Wir sind froh, wenn sich Kardiologen dessen bewusst sind, dass es sie gibt.

Bei Personen, die von einer erheblichen familiären Belastung betroffen sind, ist es doppelt so wichtig, dass behandelbare Risikofaktoren wie Zuckerkrankheit (Diabetes), Bluthochdruck, Cholesterin, Nikotin oder Übergewicht optimal angegangen werden, um eine koronare Herzkrankheit oder gar einen Herzinfarkt möglichst zu verhindern.

In der Regel ist es der Hausarzt, der seine Patienten und deren Familiengeschichte am besten kennt. Sind die Hausärzte auf die Kardiogenetik sensibilisiert?

Ich denke nicht, dass sie das sind. Wir sind schon froh, wenn sich Kardiologen dessen bewusst sind, dass es die Kardiogenetik gibt. Es braucht dringend noch mehr Aufklärungsarbeit.

Welche Rolle wird die Kardiogenetik in Zukunft spielen?

Die Kardiogenetik könnte sehr viel zur Vermeidung eines plötzlichen Herztodes einerseits sowie einer koronaren Herzkrankheit andererseits beitragen. Insbesondere bei jungen Menschen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich wünsche mir, dass die Krankenkassen endlich einsehen, dass sich mit genetischen Untersuchungen als Prävention viel Geld einsparen liesse. Dafür müssen sich das Wissen über und das Verständnis für gentechnische Untersuchungen zuerst etablieren. Gleichzeitig ist es mir ein sehr grosses Anliegen, dass genetische Untersuchungen nicht zum Lifestyle-Trend werden, beziehungsweise zu besseren Horoskopen. Genetik ist eine ernsthafte Angelegenheit und nicht eine Methode, um die eigene Neugierde zu stillen.

Zur Person:

Sabina Gallati Kraemer (1952) war von 1997 bis 2018 Leiterin der Abteilung für Humangenetik am Inselspital, Universität Bern. Zwei Jahre später stiess die Professorin zu Hirslanden Precise. Seit zwei Jahren hat sie nun die Co-Leitung mit Professor Thomas Szucs inne. 
1994 bis 1996 leitete sie das molekulargenetische Labor des Instituts für klinische Pharmakologie an der Universität Bern. Davor war sie Leiterin des forensisches Labors des Institutes für Rechtsmedizin, Universität Bern, und Leiterin des molekulargenetischen Labors der Abteilung für Pädiatrie, Inselspital, Universität Bern. Die 69-Jährige hat an zahlreichen internationalen Instituten geforscht und drei Auszeichnungen für ihre Leistungen erhalten. Dazu gehören
  • der Theodor-Kocher-Preis, verliehen von der Universität Bern,
  • der Guido-Fanconi Gedenkpreis der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie und
  • der Nestlé Award für das Werk X-chromosomale zentronukleäre Myopathie: Genlokalisation und DNA-Linkage-Analyse.
Sabina Gallati ist verheiratet, hat zwei Kinder und vier Enkelkinder. 

Für wen eignen sich genetische Tests?

  • Wenn eine Patientin oder ein Patient bereits erkrankt ist und der Verdacht auf eine genetisch verursachte Erkrankung vorliegt.
  • Zur Absicherung einer Diagnose oder zur Schaffung der Voraussetzungen für die richtige Therapie.
  • Zur Feststellung einer Anlageträgerschaft für eine erblich bedingte Krankheit im Hinblick auf die Lebens- oder Familienplanung.
  • Zum Nachweis einer Genmutation bei gesunden Familienangehörigen mit einer nachgewiesenen vererbbaren Mutation, um das Erkrankungsrisiko zu eruieren und je nach Befund entsprechende Präventivmassnahmen zu empfehlen.
  • Ob eine genetische Testung wirklich Sinn macht, ist von Fall zu Fall zu entscheiden und benötigt eine professionelle genetische Beratung vorab. 
Artikel teilen

Loading

Comment

2 x pro Woche
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

oder

Mehr zum Thema

image

Hirslanden streicht bis zu 120 Stellen

Betroffen sind ausschliesslich Jobs im Corporate Office in Zürich.

image

Klinik Hirslanden: Philippe Diserens neu im Management

Der Gesundheitsökonom übernimmt die Leitung des Performance Management.

image

CEO der Krebsliga wird COO der Tertianum Gruppe

Daniela de la Cruz übernimmt ihre neue Funktion im September.

image

Dicke Luft zwischen Hirslanden Zürich und der CSS

Der Krankenversicherer verweigert die Vergütung zusatzversicherter Leistungen. Die Spitalgruppe spricht von «Einschüchterungsversuchen» und moniert Gewinnstreben. — «Absurd», antwortet die CSS.

image

Bericht: Mediclinic holt CIO-Funktion in die Schweiz

Der ETH-Absolvent Patrick Kammermann soll demnächst in die Konzernleitung der Hirslanden-Mutter einziehen.

image

Auch Klinik St. Anna erhöht Spät- und Wochenend-Zulagen

Die Dienste werden in der Hirslanden-Klinik künftig mit einem Einheits-Zusatz von 10 Franken pro Stunde entschädigt.

Vom gleichen Autor

image

Kinderspital verschärft seinen Ton in Sachen Rad-WM

Das Kinderspital ist grundsätzlich verhandlungsbereit. Gibt es keine Änderungen will der Stiftungsratspräsident den Rekurs weiterziehen. Damit droht der Rad-WM das Aus.

image

Das WEF rechnet mit Umwälzungen in einem Viertel aller Jobs

Innerhalb von fünf Jahren sollen 69 Millionen neue Jobs in den Bereichen Gesundheit, Medien oder Bildung entstehen – aber 83 Millionen sollen verschwinden.

image

Das Kantonsspital Obwalden soll eine Tochter der Luks Gruppe werden

Das Kantonsspital Obwalden und die Luks Gruppe streben einen Spitalverbund an. Mit einer Absichtserklärung wurden die Rahmenbedingungen für eine künftige Verbundlösung geschaffen.