«Er dachte, wenn er verletzt sei, komme die Rega»

Wie erleben Menschen mit Beeinträchtigungen die Corona-Pandemie? Ein Arzt erzählt im Interview über seinen autistischen Sohn, über HIV und was uns die Krise lehrt.

, 27. Januar 2021 um 14:27
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Thomas Wagels, Sie führen seit 2003 eine Arztpraxis in Frauenfeld. Zuvor waren Sie unter anderem in der Klinik für Infektiologie/Spitalhygiene in St. Gallen tätig, wo Sie als Oberarzt die HIV-Sprechstunde betreuten. Damals verfassten Sie mit Pietro Vernazza, Ihrem einstigen Chef, die Studie «HIV im Praxisalltag», welche im Internet zu finden ist…
Wir hatten ein Tool zusammen entwickelt, welches die Zuverlässigkeit der Einnahme der HIV-Medikamente verbesserte. Ein digitaler Deckel auf der Medikamentenpackung zeigte jeweils an, wann dieser zuletzt geöffnet wurde. Darüber lachen Sie jetzt, aber eine Medikamenten-App mit Erinnerungsfunktion gab es damals noch nicht. 
Welche Parallelen und Unterschiede sehen Sie zwischen HIV und Sars-CoV-2?
Bei HIV hatte man auch von einer Pandemie gesprochen; dieses Virus hatte sich ebenfalls relativ schnell über den Erdkreis ausgedehnt. Heute kann man HIV klar aus dem Weg gehen, indem man sich schützt. HIV-Infektionen nehmen tendenziell ab, das Virus ist heute gut behandelbar. Anfang der 90er Jahre war das noch anders. Als ich seinerzeit in der Klinik in St. Gallen arbeitete, sind viele Leute an Aids noch gestorben. Während HIV mehrheitlich die sogenannten Risikogruppen trifft, kann sich mit Sars-CoV-2 jeder anstecken. Bis jetzt gibt es verschiedene Impfstoffe gegen das Coronavirus, was diese dann für den Verlauf bringen und ob es jemals Medikamente gegen dieses Virus gibt, wissen wir derzeit noch nicht.
Wie gehen Ihre Patienten mit der Corona-Situation um?
Ganz unterschiedlich. Einigen macht es gar nichts aus, sie sind froh, wenn sie ihre «Ruhe» haben. Vielen fällt die Isolation jedoch schwer. Ich empfinde es aber nicht so, als würde das Gros der Patienten übermässig leiden. Allerdings glaube ich, dass umtriebigen Menschen die Situation viel Mühe bereitet. Davon betroffen sind etwa Schüler, aber auch Hochaltrige, die aufgrund der Besuchsverbote, die in Alters- und Pflegeheimen teilweise gelten, niemanden mehr sehen dürfen.
So manchen schlägt die soziale Isolation auf die Psyche. Gemäss eines offenen Briefs, der die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen an den Bundesrat adressierten, habe sich der Anteil an Personen mit schweren depressiven Symptomen innert acht Monaten verdoppelt. Sind wir, wenn es um unsere Gesundheit geht, zu sehr auf den Körper fixiert – wird das seelische Wohlbefinden aussen vor gelassen?
Die seelische Gesundheit sollte nicht vernachlässigt werden, denn wenn die Seele krank ist, wird es der Körper früher oder später ebenfalls. Ich bin daher der Ansicht, dass wir uns nicht komplett isolieren dürfen. Meine Frau und ich treffen uns immer noch mit ein paar wenigen Freunden, nicht häufig und natürlich unter Einhaltung der empfohlenen Schutzmassnahmen gemäss den jeweils aktuellen Empfehlungen und auch nur, wenn wir uns alle gesund fühlen. In Krisen können wir lernen, weniger selbstbezogen zu sein. Wir können uns einmal überlegen: Was kann ich für meine Liebsten tun? Ein Briefchen schreiben oder ein Foto schicken? Ein Lächeln schenken, kostet nichts und bringt viel.
Sie leben mit Ihrer Ehefrau, einer Augenärztin, und mit Ihrem 19-jährigen Sohn in Frauenfeld unter einem Dach – die 21-jährige Tochter ist schon ausgezogen. Ihr Sohn Valentin hat eine Zerebralparese, und mit 13 Jahren wurde bei ihm eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert. Wie kommt er mit der «neuen Normalität» zurecht?
Valentin arbeitet in der Stiftung Hofacker in Weinfelden, wo er auch betreut wird. Mittwochs und donnerstags übernachtet er jeweils dort im Wohnheim – diese freien Abende sind für meine Frau und mich schon ein schöner «Luxus». Während des Lockdowns blieb die Einrichtung offen, so konnte Valentin seine Tagesstruktur beibehalten. Die Wohngruppe wurde jedoch vorübergehend geschlossen. Infolgedessen übernachtete er während sieben Wochen immer zuhause. Montags unternimmt er mit seinem Opa eine kleine Zugreise. Das machen die beiden schon seit rund zwölf Jahren. Valentin lebt in seiner kleinen Welt; trotz der Corona-Situation hat sich in seinem Alltag nicht viel verändert, er ist nicht gross eingeschränkt. Aber es gibt eben doch eine Einschränkung – und diese bringt meine Frau und mich auch schon mal fast zur Verzweiflung…
Und die wäre?
Er kann nicht ins Phantasialand und ebenso nicht in den Europapark. Freizeitparks haben es ihm angetan. Im Internet sucht er jeweils nach den verschiedenen Bahnen, die er mittlerweile in und auswendig kennt. Vergangenes Jahr besuchte er mit meiner Frau wieder einmal das Phantasialand in Brühl bei Köln, und fuhr erstmals mit den Bahnen, während ich bei meinen Eltern blieb, die in der Nähe des Freizeitparks wohnen. Valentin hatte so viel Freude und jetzt möchte er eben wieder nach Brühl ins Phantasialand.
Aber dort würde er vor verschlossenen Toren stehen – wie geben Sie ihm das zu verstehen?
Ich erkläre ihm, das Phantasialand habe Winterpause, und die Angestellten müssten zahlreiche Arbeiten vornehmen. Aber er versteht das nicht. Wir wohnen an einer befahrenen Strasse, Valentin zeigt oft auf die vorbeifahrenden Handwerkerautos und sagt dann immer das eine Wort: Brühl. Er hat das Gefühl, die führen dorthin und hälfen, das Phantasialand wieder zu öffnen. Einmal ging er sogar auf die befahrene Strasse. Er dachte, wenn er verletzt sei, komme die Rega und diese würde ihn dann nach Brühl fliegen. Das kam zum Glück nur einmal vor. Wenn Valentin etwas will, steigert er sich da schnell rein. Seit zwei Monaten lautet sein erstes Wort morgens: Br, also Brühl. 
Valentin kann Gesprochenes verstehen, sein Wortschatz ist jedoch beschränkt; sich verbal auszudrücken, fällt ihm schwer. Wird er von seinem Vater gefragt, ob er einen schönen Tag gehabt habe, antwortet er mit der Geste «Daumen hoch». Die gleiche Geste braucht er auch, wenn er gefragt wird: «War dein Tag nicht so toll?» Um zu kommunizieren, nutzt Valentin die Gebärdensprache für Menschen mit Einschränkung. Diese ist simpler als die Gebärdensprache für schwer oder nicht hörende Menschen und praxisnah. So orientieren sich die Gebärden denn auch oft an der Natur oder am Körper. Die Gebärde für Grün etwa ähnelt einem Baum und die für Blau den Wellen des Meeres. Die Unterschiede der Gebärden sind subtil: Um Schwarz auszudrücken, legt Valentin seine Hand auf die Augen und für Grau hält er die Hand eine halbe Armlänge vor seine Augen. Gebärden braucht Valentin auch, um Personen zu unterscheiden. Dabei spielen äussere Merkmale wie etwa der Schal, der die Lehrerin trägt oder der Ring der Betreuerin, eine bedeutende Rolle.
Valentins visuelle Wahrnehmungsfähigkeit ist äusserst ausgeprägt; er bemerkt Details, die anderen verborgen bleiben. Valentin konsumiert auch gerne visuelle Reize, sei es, indem er sich auf seinem Tablet Filme auf Disney Plus, Netflix oder Youtube anguckt oder indem er Fotos, die meist sein Vater geschossen hat, anschaut. Valentin findet im Internet schnell, wonach er sucht: Auf der Tastatur zu schreiben, bereitet ihm keine Mühe.
Thomas Wagels, wie vermitteln Sie Ihrem Sohn die aktuelle Situation?
Ich könnte schon versuchen, ihm diese zu erklären, er würde es aber nicht verstehen. Allerdings weiss ich ja nicht, was in Valentins Kopf alles vorgeht – was kann er aufnehmen, was nicht? Ich erkläre ihm deshalb Dinge – etwa wie kommt der Strom zum Zug? –, die er vielleicht nicht immer versteht. Ich bin aber manchmal überrascht, was Valentin alles aufschnappt. 
Was können Sie von Ihrem Sohn lernen?
Kürzlich schrieb mir Valentins Ergotherapeutin eine Mail, die mich sehr berührt hat. (Er zückt sein Handy und liest diese laut vor.) «Ich entdecke durch ihn Einzelheiten, welche ich ansonsten so nicht beachtet hätte, das ist wirklich das Schöne und Faszinierende zusammen mit ihm. Man fokussiert sich auch selber stark auf das Jetzt und Hier. Es denkt im Hintergrund nicht noch an etwas anderes. Man kommt selber zur Ruhe und ist ganz da. Für diese Erfahrung bin ich immer wieder dankbar.» Diese Mail fasst es gut zusammen. Wenn ich mit Valentin unterwegs bin, fahren wir etwa nach Stettbach und von da aus mit der S7 durch die blau beleuchteten unterirdischen Bahnhöfe – ich bin dann einfach nur unterwegs, die Zeit ist dann nicht wie im Alltag durchgeplant. Durch meinen Sohn bin ich um einiges ruhiger geworden und nehme vieles nicht mehr so persönlich. Valentin öffnet mir die Augen für Kleinigkeiten, die ich ohne ihn übersehe. 
Zur Person
Thomas Wagels führt seit 2003 mit drei weiteren Fachärzten für Allgemeine Innere Medizin eine Arztpraxis in Frauenfeld. Zuvor arbeitete er unter anderem in der Klinik für Infektiologie/Spitalhygiene in St.Gallen, wo er die HIV-Sprechstunde betreute. Der 57-jährige ursprünglich aus Deutschland stammende, schon lange eingebürgerte Internist ist mit einer Augenärztin verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. 
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